Herr Professor Pelinka, wer wird im Herbst die Nationalratswahl gewinnen?
Anton Pelinka: Es wird so getan, als könnte man bei der Nationalratswahl gewinnen. Aber nur eine Partei, die die absolute Mehrheit hat, gewinnt tatsächlich die Wahl. Dass das im Herbst der Fall sein wird, ist sehr unwahrscheinlich. Die Fragestellung müsste lauten: Wer kann mit wem in einer Koalitionsregierung eine absolute Mehrheit bilden; und wird diese absolute Mehrheit vom politischen Willen des direkt gewählten Bundespräsidenten getragen? Denn nicht der Bundeskanzler wird in Österreich direkt gewählt, sondern der Bundespräsident. Die Rolle des Bundespräsidenten wird oft zur Seite geschoben. Alexander Van der Bellen wird der wichtigste Akteur nach der Nationalratswahl sein – nicht jemand, der sich mit Besitz der relativen Mehrheit gerne Volkskanzler nennen würde.
Halten Sie es für wahrscheinlich, dass der Bundespräsident seinen politischen Willen durchsetzen wird?
Das weiß ich nicht. Ich bin nicht einmal sicher, ob er das schon weiß. Es hat eine Nationalratswahl im Jahre 1999 gegeben, bei der der damalige Bundespräsident Thomas Klestil den Kanzlerkandidaten der drittstärksten Partei, Wolfgang Schüssel (ÖVP), zum Bundeskanzler bestellt hat. Das heißt, es gibt weder einen Rechtsanspruch noch ein durchgehendes Gewohnheitsrecht, dass jemand von der stärksten Partei Kanzler wird. Das ist eine Frage von Verhandlungen. Der Herbst 2024 könnte die große Ära des Alexander Van der Bellen sein. Das könnte seine große Stunde sein, wo er zeigen könnte, dass er der Herr des Verfahrens ist.
Zur Person
Anton Pelinka (geb. 1941) ist österreichischer Jurist und Politikwissenschafter. Im Jahr 1977 gründete er das Institut für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Im Laufe seines Lebens arbeitete und forschte er unter anderem in Jerusalem, Brüssel, Neu-Delhi sowie an der Harvard University. Er gilt als Experte für das politische System und die politische Kultur in Österreich sowie für Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit.
(c) Starpix/ A. Tuma
Nach der Nationalratswahl 1999 gab es erstmals eine Koalition zwischen FPÖ und ÖVP. Wie hat sich die Situation damals entwickelt?
Vor der Wahl 1999 war klar, dass die Freiheitliche Partei deutlich dazu gewinnen wird. Im Jahr 1986 wurde Jörg Haider zum Bundesparteiobmann der FPÖ. Von da an ging es für die Freiheitlichen nur noch bergauf. Der damalige Kanzlerkandidat der ÖVP, Wolfgang Schüssel, hat verkündet, dass die ÖVP in die Opposition geht, wenn sie Dritter wird. Die ÖVP ist Dritter geworden. Aber Schüssel ist nicht in die Opposition gegangen, sondern Bundeskanzler geworden. Der große Wahlverlierer hat den Kanzler gestellt. Vizekanzlerin von der FPÖ wurde Susanne Riess und nicht Jörg Haider. Hier sieht man, dass bei Wahlen gut abzuschneiden nicht unbedingt garantiert, am Schluss als Sieger dazustehen.
Wie wahrscheinlich ist eine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ heute?
Heuer haben sich die führenden Personen der Volkspartei in der Öffentlichkeit mehr oder weniger festgelegt, einem Bundeskanzler Herbert Kickl nicht zuzustimmen. Die Frage bei der Wahl wird sein, ob die FPÖ auf dem Volkskanzler Kickl beharrt. Das heißt, wie immer man es dreht und wendet, eine ÖVP-FPÖ-Koalition ist zwar nicht auszuschließen, aber nicht unbedingt wahrscheinlich. Eher wahrscheinlich ist eine SPÖ-ÖVP-Koalition, zum Beispiel mit den NEOS. Wir wissen auch nicht, wie viele Parteien die Vier-Prozent-Hürde überspringen werden. Das ist eine Unbekannte. Die neue Bierpartei oder etwa die wiedererstarkende Kommunistische Partei erschweren sichere Vorhersagen.
Nach der ÖVP-FPÖ-Regierungsbildung von 1999 war der internationale Aufschrei groß. Österreich wurde von anderen EU-Mitgliedsstaaten diplomatisch boykottiert, ein Weisenrat wurde eingesetzt, um das Verhalten der Regierung zu überprüfen. Heutzutage löst eine FPÖ-Regierungsbeteiligung keine vergleichbare Reaktion mehr aus. Wieso war das damals so und warum ist es heute anders?
Die damaligen EU-Partner Österreichs haben schon vor der Regierungsbildung gesagt, dass sie die Regierung bilateral diplomatisch boykottieren werden, wenn die FPÖ zum Zug kommen sollte – nicht die EU, sondern die einzelnen Regierungen, egal ob Mitte-Rechts oder Mitte-Links. Die Mitglieder der neuen österreichischen Bundesregierung wurden nicht mehr offiziell empfangen. Dieser Boykott hat aber nicht funktioniert. So haben die Regierungschefs der anderen EU-Staaten einen Rat der Weisen eingesetzt. Mit Zustimmung der Regierung in Österreich und der anderen EU-Staaten wurde der diplomatische Boykott dann beendet, aber Österreich unter Beobachtung gestellt, im Speziellen die Regierungsmitglieder der Freiheitlichen Partei. Im Mittelpunkt stand immer die FPÖ, weil sie im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Europa-Orientierung Misstrauen erweckt hat, so wie das heute die ungarische Regierungspartei Fidesz macht. Das heißt, eine Kickl-Regierung in Österreich wäre heute nicht mehr so ungewöhnlich. Der diplomatische Boykott einzelner anderer EU-Staaten wäre zwar theoretisch möglich, wird aber im Herbst 2024 keine Rolle spielen. Dazu ist die EU schon zu groß und zu heterogen.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um die österreichische Demokratie zu stärken?
Da fallen mir zwei Punkte ein. Der eine ist der ORF. Es wurde schon von der EU-Kommission bemängelt, dass die Regierungsparteien im Stiftungsrat überdurchschnittlich stark vertreten sind. Zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk gehört ein Gleichgewicht zwischen Regierung und Opposition. Der zweite Punkt ist die immerwährende Neutralität. Da gibt es ein interessantes Phänomen. Die meisten Menschen in Österreich sind für die Neutralität. Aber wenn man sie fragt, was das eigentlich heißt, gibt es kaum klare Antworten. Politikerinnen und Politiker sagen, dass sie gerne über die Neutralität diskutieren würden, aber die Mehrheit der Menschen das nicht wolle. Die Neutralität wird missverstanden als eine Garantie, dass Österreich in Frieden lebt. Da können Finnland und Schweden eine andere Geschichte erzählen. Sie haben nach dem russischen Überfall auf die Ukraine beschlossen, dass sie nicht neutral bleiben, sondern NATO-Mitglieder werden wollen. Mir geht es gar nicht um die NATO-Mitgliedschaft, sondern nur um eine offene Diskussion über die Neutralität. Welche Schlüsse Österreich daraus ziehen soll, ob es dieselben sind, wie in Finnland und Schweden, kann diskutiert werden.
Wieso glauben Sie, dass es weltweit immer weniger Demokratien gibt?
Wenn man sich die Entwicklung der Demokratie im letzten Jahrhundert bis heute ansieht, stellt man fest, dass die liberale Demokratie heutzutage eigentlich gut aufgestellt ist. Sie ist aber immer in Gefahr. Beispiele wie Polen, zumindest bis zur letzten Wahl, und Ungarn zeigen, dass man aufpassen muss. Die Demokratie ist nie garantiert. Aber insgesamt gibt es keinen Grund, grundsätzlich an der Überlebensfähigkeit der liberalen Demokratie zu zweifeln.
Was würden Sie Menschen sagen, die mit der Politik eigentlich abgeschlossen haben und deshalb nicht zur Wahl gehen?
Nicht wählen zu gehen ist zuerst einmal legitim. Genauso wie es legitim ist, eine bestimmte Partei zu wählen. Außerdem ist Nichtwählen Ausdruck einer gewissen Diffusität. Die Wahlbeteiligung sinkt in Österreich nicht zufällig, sondern weil die realistischen Angebote gestiegen sind: Grüne, NEOS, Bierpartei, KPÖ und so weiter. Das führt dazu, dass die Parteibindung abnimmt, was sich wiederum negativ auf die Wahlbeteiligung auswirkt. Ich würde aber niemandem einreden wollen, nicht zu wählen, sondern jedem und jeder sagen: wähle, nur dann kann deine Meinung, dein Interesse Gehör finden. Wenn du nicht wählst, überlässt du anderen die Entscheidung. Der Anteil der Nichtwählerinnen und -wähler ist in Österreich nicht besorgniserregend hoch. Trotzdem: Wenn, wie erst kürzlich bei den EU-Wahlen, an die 50 Prozent der Wahlberechtigten zuhause bleiben, wäre das bedenklich. Aber das wird im September vermutlich nicht passieren.