Vermissen, jeden Tag

Der baskische Künstler Andoni Beristain fotografiert das Menschsein in Dingen. Um die Geschichte seiner verstorbenen Mutter zu erzählen, baute er mehr als 70 aufwändige Fotoinstallationen.

von Rebecca Sandbichler
Der Künstler Andoni Beristain im Porträt. Andoni Beristain.

Was bleibt denn von uns, wenn wir nicht mehr physisch da sind? Menschen, die wir berührt haben – ihre Erinnerungen und Erzählungen. Vielleicht sogar ein Lebenswerk, das weitergeht. Aber eben auch Dinge.

Jeder, der ein geliebtes Erbstück in Gebrauch hat, weiß, dass dessen Wert nicht unbedingt in der Kunstfertigkeit seiner Entstehung oder dem Material liegen muss. Sind doch selbst die billigsten oder hässlichsten Sachen nie zufällig dagewesen, sondern wurden ja gekauft, übersiedelt, geputzt und drapiert, mal liebevoll, mal nicht so liebevoll verwendet. Je älter Menschen werden, desto öfter kommt bei ihnen die Frage auf: Wieso das jetzt austauschen? Es tut es ja noch. Und so erhalten die Dinge mit der jahrelangen Verwendung – Anlass um Anlass – einen Abdruck von Menschengeschichte.

Was sagt uns also das Foto von einem Paar weißer Gummistiefel, das Andoni Beristain mit gelben Blumen befüllt und an den Strand gestellt hat, sodass die Wellen es sanft umspielen? Warum die vier verwaisten gelben Autoreifen auf einem leeren Parkplatz? Wir kennen die genauen Umstände, die referenzierten Momente nicht, wenn wir die Serie „Pieza Madre“ (Mutter-Teil) betrachten. Aber wir spüren die Sehnsucht, die Liebe, die Wut eines trauernden Sohnes.

Mehr als 70 Installationen am Strand, zwischen Felsformationen und in der Zivilisation hat der baskische Kunst- und Werbefotograf Andoni Beristain rund um die Farbe Gelb gebaut – seine Lieblingsfarbe und die Farbe des Unglücks. Er fotografierte über den Verlauf eines halben Jahres, um seiner Mutter Ángeles Isidora Zabalo zu gedenken. „Meine wichtigste Arbeit jemals“, sagt er. Und Teil eines Heilungsprozesses, der wohl für immer dauern wird. Denn seine Mutter ist 2022 ganz plötzlich verstorben. Und er müsse immer noch lernen, wie das überhaupt geht: ohne sie weitermachen. „Sie war alles für mich. Die perfekte Referenz. Sie war meine beste Freundin und der beste Mensch, den ich je gekannt habe. Jeder hatte so viel von ihr zu lernen.“

Ein Projekt des Künstlers Andoni Beristain. (c) Andoni Beristain
Mehr als 70 Installationen dieser Art baute Beristain in Gedenken an seine Mutter. (c) Andoni Beristain

Nicht zum ersten Mal nutzt der Spanier einfache Alltagsgegenstände, um eine persönliche Geschichte zu erzählen. Die Herausforderung, mit scheinbar toten Dingen tiefe Emotionen zu transportieren, reize ihn mehr als jedes menschliche Porträt. Bekannt wurde er mit seiner Stillleben-Serie „Pieza Redonda“ (Rundes Teil). Darin erzählte er vom Gefühl, mit seinem mehrgewichtigen Körper nie in das enge Schema zu passen, das die Gesellschaft für die Gestalt des Menschen vorsieht. „Du versuchst, dich reinzuquetschen, probierst, einen Platz zu finden“, schrieb er über seine Bilder von zerbrochenen und absurd konstruierten Objekten. Seinen Körper, der nicht mehr funktionierte, thematisierte er auch mit der Fortsetzung „Pieza Rota“ (Gebrochenes Teil), in dem er eine schockierende Krebsdiagnose, seine Krankheit und die damit einhergehende Vereinsamung verarbeitete. Nun, Jahre später, ging er mit einem Bild aus „Pieza Madre“ über seine Schamgrenzen und inszenierte sich selbst nackt am Strand. Ein Zeichen tiefer Verbundenheit mit seiner Mutter, die ebenfalls zeitlebens mit ihrem Körper zu kämpfen gehabt hatte. „Auch sie hat immer sehr viel gelitten, genau wie ich. Es brauchte diesen dramatischen Schritt für mich, um etwas zu zeigen, das eigentlich normal ist.“

Die Arbeit hat ihm geholfen, die Stille und Isolation zu durchbrechen, die Trauernde oft umgibt.

Beristain drapiert seine Objekte spielerisch und schafft keine direkten Übersetzungen in Gegenständen. Der Plastikstuhl symbolisiert für ihn Ewigkeit und kommt auch in manchen seiner kommerziellen Projekte vor. Feuer drückt Verzweiflung und Wut aus. Das Meer und der Strand sind ein Teil von ihm und seien auch die Heimat seiner Mutter gewesen. Die aufwändigen Installationen außerhalb des Studios würden ihn zwar oft frustrieren, weil er ein ungeduldiger Mensch sei. „Aber ich liebe diese Herausforderung.“ Schon als Kind sei er fasziniert gewesen vom Spiel mit Farbkombinationen und Materialitäten. „Damals habe ich aber noch fast ausschließlich gezeichnet und gemalt.“ Die Fotografie kam erst in sein Leben, als er von seinem kleinen Dorf im Norden Spaniens für das Designstudium nach Barcelona zog. Im zweiten Semester habe er angefangen, mit einer billigen Kamera zu experimentieren. „Natürlich liebte ich es.“

Ein Werk des Künstlers Andoni Beristain. (c) Andoni Beristain
Seine Stillleben entstehen meist außerhalb des Studios. (c) Andoni Beristain

Heute teilt er seine Zeit zwischen Barcelona und dem Land. Dass er Baske ist, möge zwar nicht Thema seiner Kunst sein. Und doch sei es unbedingt wichtig zu wissen, um ihn zu verstehen, sagt Beristain. „Wir haben eine eigene Art zu leben, sind stolz auf unsere Wurzeln und unsere Sprache – eine der ältesten der Welt.“ Die Schwere, die mit der Marginalisierung im eigenen Land einhergehe, habe sich in das Unterbewusstsein der Menschen eingegraben. Auch seine Mutter habe es nie leicht gehabt. Ein Leben voller Arbeit „und eine Großzügigkeit, größer als das Meer“ habe sie gehabt, obwohl sie selbst kaum Hilfe erwarten durfte. Seine mehr als 70 Fotoinstallationen sieht er als Hommage an ihren Mut, ihre grenzenlose Liebe und ihren Humor. Und sie seien seine Art zu sagen, dass man nichts und niemanden jemals für selbstverständlich halten dürfe.

„Du glaubst ja, du wirst niemals eine Umarmung vermissen, die schrecklichen Fernsehserien am Nachmittag, das comfort food, die guten Ratschläge und die niemals endende Liebe“, schreibt er auf seiner Website. Und dann, eines Tages, sei all das plötzlich weg. „Alles verändert sich. Und Vermissen wird zum Alltag.“ Die Arbeit an „Pieza Madre“ habe ihm aber geholfen, jene Stille und Isolation zu durchbrechen, die Trauernde oft umgibt. Menschen, die seine Bilder sehen, kommen mit ihm ins Gespräch über den Tod. Der Verlust seiner Mutter stelle ihn weiterhin auf eine harte Probe und diese einfache Wahrheit gibt ihm noch immer Rätsel auf: Wie das Leben gleichzeitig so hart und so schön sein kann. „Wir müssen das Gute feiern und aufrecht bleiben“, sagt Beristain. So wie seine Mutter Ángeles.

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