Stadtflucht nach oben

Luftverschmutzung und Hitzewellen treiben immer mehr Menschen raus aus der Großstadt und hinauf auf die Berge. Italienische Forscherinnen und Forscher sprechen dabei von einer klimabedingt vertikalen Migration. Liegt die Rettung in lichten Höhen?

von Marianna Kastlunger
Der Berg als Retter? (c) Lisa Hörterer

Der Klimawandel ist rein wissenschaftlich schon seit Jahrzehnten ein alter Hut, der mittlerweile den Diskurs der breiten Masse in Mitteleuropa erreicht hat. „Die Menschen merken, dass sich das Thema nicht nur weit entfernt in Form von schmelzenden Polarkappen oder absinkenden Inseln im Pazifik manifestiert, sondern auch direkt in hiesigen Lebensräumen“, sagt Andrea Membretti von der Universität Pavia.

Zusammen mit anderen Forschenden hat der Soziologe untersucht, aus welchen Gründen Menschen norditalienische Großstädte wie Mailand und Turin verlassen, um in höher gelegene und kleinere Gemeinden zu ziehen. Sein Fazit: Das Interesse für ein Leben in den Bergen nimmt zu, und zwar nicht nur seit den Lockdowns während der Covid-19-Pandemie. Die Gründe für diesen Trend seien nun vermehrt klimabedingt: Zunehmende Hitzewellen und Luftverschmutzung machen das Leben in den Metropolen unerträglich. Wer kann und mag, flüchtet in die höher gelegene Sommerfrische – und bleibt eventuell auch langfristig.

Der Berg wird uns nicht retten …

Zugegeben, in Zahlen gegossen scheint die untersuchte Stadtflucht in Norditalien nicht wirklich dramatisch – zwischen 2017 und 2021 ist die Anzahl derer, die beispielsweise weg aus Mailand und in die Berge gezogen sind, um knapp einen Prozentpunkt gestiegen. Die Beweggründe sind vielfältig und nicht allein auf klimatische Bedingungen zurückzuführen. Andere Untersuchungen im erweiterten Netzwerk Membrettis, etwa des wissenschaftlichen Komitees für Klima- und Binnenmigration MICLIMI in der Poebene, stellen jedoch fest, dass der Trend zur vertikalen Migration in Zukunft steigen wird, und zwar nicht nur in Italien, sondern im gesamten Alpenraum. „Wir sind gewohnt, das Thema Migration global zu betrachten, mit Beweggründen wie Flucht vor Krieg und Armut“, erklärt der Soziologe. Das Thema Binnenmigration sei in Zusammenhang mit den Auswirkungen des Klimawandels noch wenig erforscht, doch hier müsse einiges nachgeholt werden, empfiehlt Membretti: „Wir sollten diese Trends genauer beleuchten, um sie auf institutioneller und politischer Ebene adäquat begleiten und lenken zu können, zumal sie eine ganze Reihe gesellschaftlicher Herausforderungen mit sich führen werden.“ Das Leben am Berg mag zwar frischere Temperaturen versprechen, aber wem denn genau? Ist denn oben Platz für alle? Und überhaupt: Wie stark werden die Auswirkungen des Klimawandels in den Bergen spürbar sein – ist es dort noch sicher? Für den Soziologen ist klar: „Das Thema vertikale Migration hat viele Facetten und letztlich geht es um soziale Ungleichheit. Wer über entsprechende Ressourcen verfügt, kann der Hitze entkommen. Was geschieht aber mit den anderen?“

Andrea Membretti beleuchtet die soziologischen Folgen des Klimawandels.
(c) privat
… es sei denn, wir retten den Berg zuerst!

Als Soziologe beschäftigt sich Membretti bereits seit Jahren mit Möglichkeiten, den Berg für alle zugänglich zu machen, und zwar unter Berücksichtigung lokaler Bedürfnisse, um die Balance zwischen Mensch und Umwelt zu erhalten. Denn eines ist für den Forscher klar: „Der Berg wird uns nicht retten, es sei denn, wir retten ihn zuerst. Dabei müssen wir seine ökologische, kulturelle und wirtschaftliche Vielfalt bewahren.“ Und wie kann das gelingen? Als Mitbegründer von „Riabitare l’Italia“, (auf Deutsch „Italien neu bewohnen“), einem interdisziplinären Kultur-, Umwelt und Politikprojekt zur Förderung der räumlichen Entwicklung, kümmert er sich mit dem Verein etwa um die Akquise, Fortbildung und Vernetzung von Interessenten, um teils verlassene Ortschaften und Gegenden neu zu beleben, oder veröffentlicht und verbreitet Publikationen zu dazugehörigen Themen. Eine umfangreiche wissenschaftliche Publikation zur vertikalen Migration wurde erst kürzlich in Bozen vorgestellt. Membretti selbst kennt die speziellen Herausforderungen in unterschiedlichen Regionen, vom abgelegenen Bergdorf bis hin zu touristischen Hotspots. „Wir wollen nachhaltige Projekte verwirklichen und setzen dabei lokal in Norditalien an. In Regionen wie Nord- und Südtirol, wo es einen starken Fokus auf den Tourismus gibt, leistbarer Wohnraum knapp wird oder Kleinbetriebe von internationalen Konzernen geschluckt werden, sind ganzheitliche Konzepte erforderlich“, so der Soziologe. Vor allem angesichts des künftig steigenden Bedarfs am Zugang zur Sommerfrische. Auch für sozial schwache Gruppen. Daher plädiert Membretti für mehr Aufmerksamkeit für dieses bislang wenig erforschte Phänomen. Und wünscht sich letztlich konkrete Maßnahmen von Seiten der Politik, um rechtzeitig auch die Ressourcen am Berg gerecht und nachhaltig zu verteilen.

Buchtipp:

Das Jahr 2024 war das bisher heißeste überhaupt. So ist das wachsende Interesse an temperaturmäßig angenehmeren Lebensräumen außerhalb großer, urbaner Zentren nicht verwunderlich – und ein Phänomen, das erhöhte Aufmerksamkeit verdient. Der italienischsprachige Sammelband „Migrazioni verticali“ untersucht die Hintergründe mit einem interdisziplinären Ansatz und schildert soziologische, aber auch klimatologische, wirtschaftsgeografische und umweltwissenschaftliche Aspekte.

Migrazioni verticali, Andrea Membretti, Filippo Barbera, Gianni Tartari, Donzelli Editore 2024

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