Seit Kurzem gibt es in Supermärkten in Österreich erstmals veganen Käse aus Proteinen von einem Pilz. Mit „What a time to be alive?“ haben Sie das auf X kommentiert. In welcher Zeit leben wir, wenn es um Lebensmittelproduktion geht?
Martin Reich: Was wir momentan erleben, ist eine Fortführung der Fermentation, einer Methode, die wir schon seit Tausenden von Jahren nutzen. Diese traditionelle Methode, die Mikroorganismen zur Lebensmittelverarbeitung nutzt, wurde nun mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen weiterentwickelt. Das ist Wissen aus jahrelanger Forschung, die jetzt zu konkreten Produkten, wie diesen Käse, führt. Die Forschung bringt Lösungen für große Herausforderungen wie den Klimawandel und das Artensterben. Das finde ich extrem spannend.
Wie unterscheidet sich dieser Käse von anderen veganen Produkten?
Der Käse aus dem Labor nutzt die Vorteile der Fermentation, einer Technik, die Lebensmittel durch den Einsatz von Mikroorganismen wie Bakterien und Pilzen verändert oder produziert. Dieser Prozess macht die Produkte nährstoffreicher und geschmacklich intensiver im Vergleich zu pflanzlichen Alternativen. Mikroorganismen produzieren beispielsweise natürlich Vitamin B12 und bieten ein hochwertigeres Protein. Außerdem bringen sie den Umami-Geschmack mit, der vielen pflanzlichen Produkten fehlt. Dies führt zu einem Produkt, das in Geschmack und Nährwertprofil näher an tierische Produkte herankommt und somit eine fortschrittlichere Version veganer Käsealternativen ist.
Was genau passiert bei der Fermentation?
Fermentation kann auf drei Arten passieren. Erstens, ganz klassisch, indem man Mikroorganismen nutzt, um ein bereits vorhandenes Lebensmittel zu verändern – das kennen wir vom Sauerkraut oder Wurstsorten wie Salami. Zweitens, indem man Mikroorganismen direkt konsumiert, was sehr nahrhaft sein kann. Viele Mikroorganismen wie bestimmte Hefen sind reich an Nährstoffen. Auch Pilze und Bakterien – nicht solche, die uns krank machen, sondern Bakterien, die man tatsächlich essen kann. Das klingt vielleicht befremdlich, ist aber nichts Neues. Wir essen ja jetzt schon mit Lebensmitteln wie Joghurt oder Emmentaler Mikroorganismen mit. Neu ist, dass die Mikroorganismen beziehungsweise ihr Protein das Lebensmittel darstellen. In der dritten Fermentationsweise kommt Biotechnologie ins Spiel. Dabei fungieren Mikroorganismen als zelluläre Fabriken. Sie werden genetisch so verändert, dass sie bestimmte Proteine produzieren, die sonst in tierischen Produkten vorkommen. Beim Käse zum Beispiel wird der Mikroorganismus dazu gebracht, Milchproteine zu produzieren. Das gibt es auch mit Palmöl oder mit Blut. Man stellt tierische Blutbestandteile her oder tierische Fette ganz ohne das Tier – durch die Implementierung der genetischen Information in einen Mikroorganismus. Da spricht man von Präzisionsfermentation.
Klingt kompliziert. Was steckt dahinter?
Die Präzisionsfermentation nutzt Gentechnik, um Mikroorganismen so zu modifizieren, dass sie etwas produzieren, das sie normalerweise nicht herstellen würden. Das passiert jetzt teilweise bereits bei der Herstellung von beispielsweise Zitronensäure, Vanillearoma oder Insulin. Ein Beispiel ist die Nachbildung von Proteinen, die normalerweise in der Kuhmilch vorkommen. Es werden, vereinfacht gesagt, spezifische DNA-Sequenzen in die Mikroorganismen eingefügt, wodurch diese in der Lage sind, die gewünschten Proteine zu erzeugen. Das ist allerdings sehr kompliziert, weil die Integration und Funktion der fremden DNA in Mikroorganismen präzise kontrolliert und optimiert werden muss. Aber am Ende produziert man quasi Milch ohne die Kuh, indem man biotechnologische Methoden in einem Fermentationstank verwendet. Mit solchen Tanks könnte man viele Kühe ersetzen.
Wie findet man die richtigen Mikroorganismen?
Man kann ganz einfach auf die Suche gehen, auch in der Natur, weil es so viele Mikroorganismen gibt, die gar nicht bekannt sind. Man nimmt Proben aus dem Boden oder aus dem Meer und schaut, was da alles so drin ist. In dieser Vielfalt, die kaum erforscht ist, findet man vieles Neues. Ein anderer Ansatz ist, mit bekannten und gut beschriebenen Mikroorganismen zu arbeiten.
„Der Käse aus dem Labor nutzt die Vorteile der Fermentation, einer Technik, die Lebensmittel durch den Einsatz von Mikroorganismen wie Bakterien und Pilzen verändert oder produziert. Dieser Prozess macht die Produkte nährstoffreicher und geschmacklich intensiver im Vergleich zu pflanzlichen Alternativen.“ (c) privat
Wie weit ist man bei der Präzisionsfermentation?
Im Labor ziemlich weit. Die Herausforderung besteht darin, die Produktion zu skalieren. Es geht darum, die Prozesse so anzupassen, dass Mikroorganismen die gewünschten Produkte verlässlich und in großen Mengen herstellen, ähnlich wie in modernen Bierbrauereien. Derzeit ist die Finanzierung dafür schwierig und die Produktionskosten sind noch zu hoch. Ein weiteres Hindernis in der EU ist der aufwendige Prozess zur Zulassung neuer Lebensmittel. Sie werden oft als risikoreicher angesehen als traditionelle Lebensmittel, was das Ganze verkompliziert. Es wäre gut, regulatorische Zwischenschritte einzuführen, die es ermöglichen würden, Produkte, die noch nicht endgültig zugelassen sind, zumindest probeweise zu verkosten, um die öffentliche Akzeptanz zu fördern.
Wann haben Sie eigentlich entdeckt, dass Fermentation, der Sie mit „Revolution im Mikrokosmos“ ein ganzes Buch widmen, großes Potenzial hat?
Mein Aha-Moment kam nicht direkt aus dem Lebensmittelbereich, sondern aus der Bioökonomie und der Idee der Bio-Raffinerie. Da geht es darum, von fossilen auf regenerative Ressourcen umzustellen und Reststoffe in hochwertige Chemikalien umzuwandeln. Besonders beeindruckte mich die Gasfermentation, bei der Gase direkt aus der Luft zur Herstellung von Produkten genutzt werden, ohne dass Biomasse angebaut werden muss. Das hat das Potenzial, Klimagase direkt als Rohstoffe zu nutzen und könnte im Idealfall eine Wirtschaft ermöglichen, die CO2 direkt aus der Luft verwertet. Das führte mir das transformative Potenzial der Fermentation vor Augen. Wir könnten fast ohne landwirtschaftliche Flächen auskommen, was angesichts der Tatsache, dass fast die Hälfte der bewohnbaren Erdoberfläche für die Landwirtschaft genutzt wird, erhebliche Auswirkungen auf den Flächenverbrauch haben könnte. Platz für naturschonendere Landwirtschaftsformen und Flächen für Naturschutz würden frei werden. Der Druck auf bestehende Landressourcen würde sinken.
Das heißt, diese Lebensmittelproduktion durch Fermentation soll die Landwirtschaft nicht komplett ersetzen, sondern sie ergänzen.
Genau. Die Vorstellung, dass wir in Zukunft keine Landwirtschaft mehr benötigen, ist weit von der Realität entfernt. Es wird immer einen Bedarf an Lebensmitteln geben. Wir brauchen die Landwirtschaft auch dann noch, wenn wir zunehmend alternative Methoden wie die Fermentation entwickeln. Sie spielt auch im Non-Food-Bereich, etwa wenn es um Biomaterialien und Kleidung geht, eine Rolle.
Welche Vorteile haben durch Mikroorganismen hergestellte Lebensmittel im Vergleich mit anderen veganen Ersatzprodukten fürs Klima?
Ich würde nicht sagen, dass durch Mikroorganismen hergestellte Lebensmittel besser fürs Klima sind als andere vegane Fleischalternativen, aber sie sind besser als Massentierhaltung. Der Druck auf die Landwirtschaft wird zunehmen, da die Weltbevölkerung und der Fleischkonsum weiter steigen. Die Herausforderung liegt darin, das Wachstum der Landwirtschaft einzubremsen und zugleich alle Menschen mit Proteinen zu versorgen. Tiere brauchen im Vergleich zu Mikroorganismen viel mehr Ressourcen, um Pflanzen in hochwertiges Protein umzuwandeln. Mikroorganismen sind effizienter, da sie als Einzeller schnell wachsen. Sie brauchen auch Nahrung, um zu wachsen, aber viel weniger. Der Flächenbedarf wird gesenkt. Bioreaktoren können fast überall aufgestellt werden, unabhängig von den klimatischen Bedingungen, was das Risiko von Ernteeinbrüchen durch Wetterextreme mindert. Diese Form der Nahrungsmittelproduktion ist damit nicht nur nachhaltiger, sondern auch resistenter gegenüber dem Klimawandel, was unser Ernährungssystem widerstandsfähiger macht.
Wie viel CO2 könnte man einsparen?
Das variiert stark und hängt von den Produktionsbedingungen und dem Energiemix des jeweiligen Landes ab. Konservative Schätzungen gehen von einer Einsparung von zwanzig bis dreißig Prozent aus, bei optimalen Bedingungen kann man bis zu neunzig Prozent im Vergleich mit der Herstellung der tierischen Pendants einsparen. In Finnland zum Beispiel sind die Einsparungspotenziale aufgrund des hohen Anteils an Atomstrom sehr groß, während man in Polen durch die starke Nutzung von Kohle weniger Vorteile sieht. Fakt ist, dass man die Rechnung nicht ohne Einbeziehung der verwendeten Energiequellen machen darf. Es braucht also auch in anderen Sektoren eine Transformation. Zugegeben, im Moment haben wir noch nicht genug Strom aus erneuerbaren Energien, damit eine klimafreundliche Massenproduktion möglich wäre. Andererseits kann aus geschlossenen Tanks, anders als von Kühen auf der Weide, kein Methan entweichen. Und Wasser wird effizienter genutzt, was in Zeiten von Wasserknappheit von großer Bedeutung ist. Das sind weitere Vorteile.
In meiner Nachbarschaft produzieren Leute begeistert selbst ihre Lebensmittel – mit Kräutern am Balkon, Hühnern im Garten und Bienenstöcken am Feld. Was überzeugt Sie, dass Essen aus dem Labor akzeptiert wird?
Ich sehe eine Zukunft, in der fortschrittliche Biotechnologien diesen Do-it-yourself-Trend ergänzen. Stellen Sie sich vor, kleine, effiziente Bioreaktoren werden so alltäglich wie Küchengeräte, ermöglichen es Menschen, zu Hause frische Lebensmittel selbst herzustellen. Diese Geräte könnten eine Revolution in der Lebensmittelproduktion einläuten, indem sie Frische und Sicherheit direkt in die Küchen bringen und es den Leuten ermöglichen, ihre Nahrung genau nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. Durch die einfache Nutzung dieser Technologien könnten Verbrauchende die Inhaltsstoffe ihrer Lebensmittel kontrollieren und ein neues Bewusstsein für nachhaltige Ernährungsweisen entwickeln. Dies würde nicht nur zur Dezentralisierung der Lebensmittelproduktion beitragen, sondern auch jedem Einzelnen ermöglichen, aktiv an der Nahrungsmittelkette teilzunehmen. Eine solche Entwicklung könnte weg von der Massenproduktion führen, hin zu einer persönlicheren, nachhaltigeren und lokal kontrollierten Lebensmittelherstellung.
Was lässt Sie an diese Revolution glauben?
Mein Glaube an die Fermentation hängt damit zusammen, dass wir eine lange Tradition des Brauens haben. Das ist nichts Neues, sondern eine Praxis, die wir über Jahrhunderte verfeinert haben. Mikroorganismen sind in ihrer Funktion außergewöhnlich effizient und robust. Das stimmt mich optimistisch. Wir haben bereits bewiesen, dass wir mit Mikroorganismen in der Pharmaindustrie erfolgreich Medikamente produzieren können. Die Frage ist nicht, ob Fermentation funktioniert – das tut sie zweifellos – sondern, wie wir Fermentationsprozesse weiter verbessern und ausbauen können.
Revolution aus dem Mikrokosmos,
Residenz Verlag, 2024
In seinem Buch begibt sich Martin Reich auf die Spur der alten und neuen Fermentation und zeigt ihre Möglichkeiten für eine nachhaltigere Lebensmittelproduktion auf.
Dieser Artikel wurde durch die Unterstützung des VVT ermöglicht.