Protest auf Pedalen

Beharrliche Eltern und ihre Kinder sorgen mit Radelaktionen für mehr Sicherheit in ihrem Innsbrucker Wohngebiet. Es geht ihnen um weit mehr als Tempo dreißig.

von Lena Westreicher
Eine Familie auf Rädern. Kinder brauchen einen sicheren Schulweg. (c) Brett Sayles

Es geht loooos!“, ruft Olaf Hermann von der Bürgerinitiative Mitterweg der Menge zu. Hinter ihm haben sich Kinder im Kindergarten- und Volksschulalter mit ihren Eltern versammelt. Sie alle eint das Verkehrsmittel, mit dem sie an diesem frühen Morgen im Mai gekommen sind: ein Fahrrad, mit dem sie zur Schule fahren wollen. Egal ob quietschpink mit Rücktrittbremse oder Stadtrad mit Kinderanhänger – die Vielfalt ist so groß wie die Vorfreude der Kinder, die wild durcheinanderrufen. Und dann treten Groß und Klein schon fleißig in die Pedale, die Fahrradglocken der Kinder klingeln wie ein Glockenspiel im Wind.

Dieser fröhliche Umzug der Kindergarten- und Schulkinder hat einen ernsten Hintergrund. Denn jeder vierte Unfall am Schulweg passiert in Tirol im Mai und Juni: eben den Monaten, in denen es die Kinder mit den Fahrrädern auf die Straßen zieht. Laut dem Verkehrsclub Österreich (VCÖ) wurden letztes Jahr 39 Kinder auf dem Weg zur Schule verletzt. Schlimmer noch: Kein Bezirk in Tirol hatte 2022 null Verkehrstote. Die Initiative Mitterweg spricht sich für einen sicheren Schulweg für Kinder in der Höttinger Au im Innsbrucker Westen aus. Ihr sogenannter „Radlbus“ soll weiter Aufmerksamkeit erzeugen: für ein Tempolimit dreißig und sichere Übergänge für Fußgänger.

Beides ist ein geradezu giftiger politischer Zankapfel in Innsbruck. So zäh und langwierig sind die Bemühungen um weniger Lärmbelästigung und mehr Verkehrssicherheit, dass Anwohnerinnen und Anwohner in St. Nikolaus im November 2019 kurzerhand ihren eigenen Zebrastreifen mit Kreidefarbe aufsprayten und damit einen großen Polizeieinsatz auslösten. Sobald der Regen kam, war alles wie vorher.

Die Initiative Mitterweg spricht sich für ein Tempolimit aus. (c) Markus Spiske

Auch ihre eigenen Versuche, den Mitterweg sicherer zu machen, seien lange im Sand verlaufen, erzählt Eva Zechmann, die gemeinsam mit ihrem Nachbarn Olaf Hermann die Bürgerinitiative Mitterweg gründete. Gemeinsam fingen sie an, diverse Stellen darauf hinzuweisen, wie unübersichtlich und gefährlich diese Straße gerade für die jüngeren Verkehrsteilnehmer, Fußgänger und Radfahrer sei. Öffis, Taxis und Touristen würden mit hohen Geschwindigkeiten durchrauschen, kein einziger Schutzweg sei auf einer Strecke von 800 Metern zu finden.

Von vielen Fraktionen erhielten sie dieselben Antworten: Den Mitterweg umzustrukturieren sei ein nicht machbares Unterfangen, weil die Nordseite der Straße Privatgrund ist. Doch Zechmann ließ sich nicht entmutigen, denn: „Wer den 30er entscheidet, ist egal – Hauptsache, er kommt!“ So versuchte sie es nochmal mit einem Schreiben an alle Fraktionen. Schließlich nahm sich Gemeinderat Mesut Onay von der Alternativen Liste Innsbruck (ALI) der Sache an und organisierte gemeinsam mit der Initiative eine Kundgebung direkt am Schauplatz, wo die Forderungen medienwirksam aufbereitet wurden. „Das Tempolimit dreißig ist ein Zeichen der Zeit – wer dagegen ist, argumentiert auch gegen die Zukunft“, sagt Gemeinderat Onay. Für Zechmann war klar: „Wir wollen nicht in Parteistreitereien hineingezogen werden, sondern wollen, dass sich was ändert.“ Und das tat es: Im April-Gemeinderat brachte SPÖ-Mandatar Helmut Buchacher, Leiter der Innsbrucker Arbeitsgruppe für Tempo dreißig, den Antrag ein, den Mitterweg in die bestehenden Tempo-dreißig-Zonen hineinzunehmen. Das wurde angenommen.  Auch einen ersten Zebrastreifen auf Höhe des ansässigen Supermarkts gibt es mittlerweile.

Die Kundgebung und die damit verbundene Online-Petition schuf auch neue Verbindungen unter Gleichgesinnten: Denn an diesem Tag wurde Ilona Reckziegel von der Klimaschutzgruppe „Parents for Future“ auf die Initiative aufmerksam. Sie brachte die Idee der Radlbus-Aktionen mit, die sie unter anderem Namen aus dem Ausland kannte. Bald waren sich alle einig, dass ein solcher Protest die Situation am Mitterweg weiter verbessern könnte. Die Initiative fordert in einer laufenden Petition noch viel mehr: ein vollständiges Tempo-dreißig-Limit für das ganze Wohngebiet, beidseitige Gehsteige, weitere Schutzwege und Verkehrsinseln. Das gemeinsame Ziel: den Mitterweg als Lebensraum für alle zu gestalten. Vielleicht sogar mit einer Art Dorfplatz rund um die Apotheke?

Sonnenstrahlen tauchen den Asphalt nun in blassgelbes Licht, es ist halb acht. Die Radler rauschen in der Gruppe an Spaziergängern mit ihren Hunden vorbei. Autofahrer wundern sich über die temporäre Straßensperre, werfen den Radlern seltsame Blicke zu. Deren Umzug dauert höchstens 15 Minuten: Vom Start an der Ecke Steinbockweg führt er den Mitterweg entlang zur Volksschule Angergasse. Dort angekommen, wuseln die Kinder auch schon aufgeregt herum – schließlich haben sie sich noch viel zu erzählen, bevor der Unterricht beginnt. Die Räder sind abgestellt, die Erwachsenen reden noch und sind sich einig: Es gebe immer noch viele unübersichtliche Stellen am Mitterweg, wo die Kinder zwischen parkenden Autos über die gut befahrene Straße flitzen müssen und sich so einem großen Risiko aussetzen.

Ilona Reckziegel findet es wichtig, dass der Verkehr als ein Miteinander gesehen wird: „Es dürfen alle Rechte auf der Straße haben, nicht nur die Autofahrer.“ Sie hält nicht viel davon, Radfahrer mit baulichen Maßnahmen wie Unterführungen vom Verkehr abzugrenzen. Olaf Hermann ergänzt: „Hier geht es auch um Barrierefreiheit – man vergisst sonst Randgruppen.“ Verkehrsteilnehmende von acht bis achtzig Jahren sollen sicher mobil sein können. Die drei Aktivistinnen und Aktivisten ziehen ein recht gutes Resümee für ihre zweite Radlbus-Aktion. „Die Kinder haben Spaß und alle ziehen an einem Strang. Das motiviert!“, meint Hermann. Und wenige Tage später kommt er dann tatsächlich: Der echte 30er am Mitterweg. Ein Erfolg für die Bürgerinitiative – und womöglich nicht der letzte.

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