Ohne Rast und Ruh

Ein Leben frei von Stress und Frustration gibt es nicht. Zu viel macht aber krank. Was hilft uns, zu entspannen, wenn die Anspannung unerträglich wird?

von Yannick Voithofer
Tanzen ist ein Weg, im Moment zu leben und alles zu vergessen. (c) Verena Wagner

Montagmorgen in der 20er-Redaktion. Schreibtisch und Posteingang warten mit haufenweise Arbeit auf den Kollegen. Zig E-Mails, die beantwortet werden wollen, ein Telefon, das ununterbrochen klingelt, das Smartphone, das an einen baldigen Termin erinnert, und dann streikt auch noch der PC. Das schlägt aufs Gemüt. Anfängliche Seufzer und Wehklagen gipfeln in fulminantem Ärger, der den Geplagten aus seinem Bürostuhl treibt. Wütig steht er da und sucht nach Zielen für seinen Ärger. Glücklicherweise ist jener Kollege ein bedacht handelnder Mensch. Er setzt sich wieder und belässt es bei einer Recherche zum Kaufpreis eines Boxsacks. Ergebnis: etwa 100 Euro.

Die Wut verabschiedet sich schnell wieder aus der Redaktion. Was bleibt, sind Fragen: Warum sind wir oft so gereizt? Was passiert bei Stress und Frustration mit uns? Und vor allem: Was hilft uns, um wieder runterzukommen? Daraus entsteht eine Suche nach Antworten und Lösungen auf das, was vielleicht eine prägende Erscheinung unserer Zeit ist: „die große Gereiztheit“.
So betitelte jedenfalls der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen 2018 sein Buch über die Erregungsmuster im Zeitalter des Digitalen. Er beschreibt darin die Überforderung mit einem Überfluss an kaum gefilterter Information, dem wir ständig ausgesetzt seien. Den gleichen Titel trägt aber auch ein Kapitel in einem wesentlich älteren Werk, Thomas Manns „Zauberberg“. „Was gab es denn? Was lag in der Luft? – Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld“, schrieb der Schriftsteller knapp 100 Jahre früher im Bezug auf die aufgeheizte Stimmung am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Stress, Frustration und Ärger gehören seit jeher zu unserem Leben. Das ist gut so, denn ohne könnten wir nicht überleben. Der Physiologe Walter Cannon beschrieb bereits 1915 Stress als eine evolutionär entstandene Reaktion auf Gefahrensituationen, die potenziell das eigene Überleben gefährden. Der Organismus versucht, alle verfügbaren Ressourcen zu aktivieren und der Situation entweder mit Kampf oder mit Flucht zu begegnen: Der Atem beschleunigt sich, der Blutdruck steigt, mehr Energie wird bereitgestellt und die Stoffwechsel- und Fortpflanzungsaktivität heruntergefahren. Stress ist daher keinesfalls als rein psychisches Phänomen zu betrachten. Zwar sind innere Unruhe, Anspannung oder negative Gedanken häufig Teil der Stressreaktion, aber genauso auch körperliche Anzeichen wie beispielsweise Schwitzen, Herzrasen, Muskelverspannungen oder Verdauungsprobleme.

Stress ist subjektiv.

Während der Stress also schon immer da war, haben sich die Auslöser, die sogenannten Stressoren, gewandelt. „Es ist ganz typisch für westliche Gesellschaften und den Zeitgeist, viel Stress zu erleben. Objektiv kann man aber nicht sagen, dass die Gefahren in unserem Alltag zunehmen“, erklärt Carina Bichler, promovierte Psychologin und Sportwissenschaftlerin an der Medizinischen Universität Innsbruck. „Was uns heute häufig stresst, ist die Angst, etwas zu verpassen, nicht dazuzugehören oder nicht gut genug zu sein.“ Soziale Stressoren nehmen ihr zufolge zu. Sie betont aber, dass Stress etwas Subjektives sei. Jeder Mensch hat andere Stressoren. Bei einigen spielt zum Beispiel die Arbeit eine große Rolle. Verschiedene Modelle aus der Arbeitsforschung gehen davon aus, dass hohe Anforderungen und geringe Kontrolle, aber auch fehlende Anerkennung eine Stressreaktion hervorrufen können. Neben einer Intensivierung der Arbeitszeit treten heute im beruflichen Kontext auch Phänomene wie „Workism“ – so bezeichnet Derek Thompson vom Magazin The Atlantic eine Überidentifikation mit der eigenen Arbeit – auf. Der Beruf soll nicht das finanzielle Überleben, sondern vor allem die Verwirklichung des eigenen Selbst ermöglichen. Die Schweizer Journalistin Nina Kunz schildert ihre Erfahrung mit dieser Vorstellung von Arbeit in einem ihrer Texte: „Darum wollte ich Journalistin werden, und darum habe ich heute keine Schreib-, sondern Lebenskrisen, wenn ich im Job versage.“ Die Angst, nicht gut genug zu sein, zu versagen, ist heute bei vielen Menschen präsent. Das stetige Optimieren werde durch die hohe Verfügbarkeit an Informationen begünstigt, meint Bichler.

„Es gibt keine klare Grenze zwischen gesund und krank.“

Carina Bichler

Obwohl ein gewisses Maß an Stress noch keine Gesundheitsgefahr darstellt, sogar in einer positiven Weise aktivierend sein kann, steht eine dauerhaft erhöhte Stressbelastung mit zahlreichen Krankheiten in Verbindung. Neben psychischen Erkrankungen wie Depression oder Angststörungen steigt mit chronischem Stress auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Entzündungen und Diabetes mellitus Typ 2. Wann der Stress zur Gefahr wird, ist immer individuell zu beurteilen. „Es gibt keine klare Grenze zwischen gesund und krank“, sagt Psychologin Bichler. Indikatoren können aber jedenfalls das eigene Schlafverhalten oder die Verdauung sein: Wie lang brauche ich, um einzuschlafen? Bin ich in der Früh erholt? Plagen mich häufig Verdauungsprobleme? Auch Rückmeldungen von Freundinnen, Freunden und Verwandten können hilfreich sein. Wesentlich ist jedenfalls, schon früh auf seinen Körper zu achten. „Wenn der Stress lang chronifiziert ist, ist es wesentlich schwieriger“, so Bichler.

Wege zur Entspannung.

Bei den Strategien zur Stressbewältigung wird in der Psychologie zwischen problemfokussierten und emotionsfokussierten Ansätzen unterschieden. Bei Ersterem geht es darum, die Stressauslöser zu vermeiden oder zu reduzieren. Häufig können wir unsere Umwelt aber nicht einfach an unsere Bedürfnisse anpassen – vor allem im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Dann rückt im emotionsfokussierten Ansatz die Reaktion auf die Stressoren in den Mittelpunkt. Hier kann eine Vielzahl an Methoden helfen. Dazu zählen Entspannungstechniken wie autogenes Training, progressive Muskelrelaxation, aber auch Qigong, Yoga, Meditation und Bewegung im Allgemeinen. Carina Bichler erzählt von ihrer klinischen Arbeit mit Betroffenen: „Wir holen die Leute da ab, wo sie stehen. Je aufgewirbelter die Gedanken sind, desto eher geht man über Bewegungstechniken.“ Manche Patientinnen und Patienten wüssten nämlich gar nicht mehr, wie sich Entspannung anfühlt, und machten die Erfahrung, dass klassische Entspannungstechniken bei ihnen nicht wirkten. Das kann frustrieren. Wichtig ist daher die persönliche Passung, sodass die Methode, etwa Bewegung oder eine Achtsamkeitstechnik, nach einer Testphase vertieft und in den Alltag integriert werden kann. Auch die meisten Sportarten helfen individuell sowohl als Akut- als auch als Präventivmaßnahme.

Wird Stress und Frustration aber zu Ärger und Wut – wir kehren zur Szene am Anfang zurück –, dann ist bei der Wahl der Methode etwas Vorsicht geboten. Von der eingangs erwähnten Investition in einen Boxsack würde die moderne Psychologie nämlich eher abraten – auch wenn es natürlich zu begrüßen ist, dass sich der Kollege nicht an seinen Mitmenschen abreagieren möchte. Das, was landläufig als „Dampf ablassen“ oder „es rauslassen“ bezeichnet wird, ist laut zahlreichen Studien, wie etwa jenen des amerikanischen Psychologen Brad Bushman, nicht zielführend. Die Idee, dass Emotionen weniger stark werden, wenn man sie nur ausreichend auslebt, stammt aus dem antiken Griechenland. Dort wurde die erhoffte Reinigung der Psyche, indem man verschiedene Emotionen durchlebt, als Katharsis bezeichnet. Im Laufe der letzten Jahrzehnte zeigte sich aber, dass das Gegenteil zutrifft: Wer die Wut auslebt, wie beispielsweise an einem Boxsack oder wütend laufen geht, trainiert das Wütendsein und ist nachher meist aufgebrachter als zuvor.

„Manche wissen gar nicht mehr, wie sich Entspannung anfühlt.“

Carina Bichler

In einem Moment der Wut ist es also besser, auf bereits zuvor erlernte Entspannungstechniken oder Ablenkung und Distanz zur Situation zu setzen – ohne jedoch die Emotion selbst zu verdrängen. Denn es sei wichtig, so Carina Bichler, das ganze Emotionsspektrum zu kennen. Dass Ärger auftritt, sei per se nicht schlimm. „Ärger kann darauf hinweisen, dass etwas nicht okay ist, und muss nicht heißen, dass ich andere schädige.“ Wünschenswert sei für die Psychologin, „dass Menschen ihre Emotionen erkennen, verstehen, warum sie entstehen, und mit etwas Abstand bewusst darauf regieren können – statt ihnen ausgeliefert zu sein.“.

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