Nehmt ihr mich?

In einem aufwändigen Auswahlprozess wurden drei neue Mitglieder für
die Tanzkompagnie des Tiroler Landestheaters gesucht.
Rebecca Sandbichler war dabei – und wäre nie draufgekommen, wer es wird.

von Rebecca Sandbichler Rebecca Sandbichler ist Chefredakteurin der Tiroler Straßenzeitung
Tanzcasting Nur drei von ihnen können es werden. Die Plätze in der Tanzkompagnie sind hart umkämpft (c) Andrea Widauer

Tausendzweihundert zu drei. So stehen die Chancen. Alle jungen Tänzerinnen und Tänzer, die an diesem fröhlichen Sonntagvormittag Anfang April das Studio des Tiroler Landestheaters betreten, wissen es. Rund vierzig Personen haben die beiden Co-Tanzdirektoren Stefan Späti und Marcel Leemann aus der Flut an Bewerbungen ausgewählt. Nur zwei oder drei von ihnen werden in der neuen Saison die Tanzkompagnie ergänzen dürfen.

Das bedeutet, dass alle hier gut sind. Wirklich sehr, sehr gut. Und doch wird das für die meisten nicht genug sein. „All the stars have to align“, sagt die zypriotische Tänzerin Evita dazu: Damit man ausgewählt werde, müssten schon alle Sterne genau in der richtigen Konstellation stehen.

„All the stars have to align“

Evita, Tänzerin

Es ist vorstellbar, dass die Sterne für Evita gut stehen. Die Tänzerin mit dem markanten dunklen Pony ist zwar klein, was je nach Gruppe ein Nachteil sein kann. Aber sie hat eine große Präsenz und bewegt sich leichtfüßig wie ein Panther. Den Schritten der Probenleiterin Jacqueline „Jackie“ Lopez konnte sie bisher mühelos folgen. Und es scheint, als brenne dauerhaft ein Feuer in ihr. Doch worauf es am Ende ankommen wird, weiß Evita genauso wenig wie alle anderen. Darum beschließe sie, einfach Spaß zu haben. „Du musst das hier behandeln wie eine ganz normale Tanzstunde.“ Das klingt einfacher als es ist, wenn man so wie sie extra für das Casting aus New York eingeflogen ist. Doch Melina, eine Kollegin aus Belize, pflichtet ihr bei. Gemeinsam fläzen die beiden auf dem knautschigen Sofa vor dem Proberaum, essen Bananen und sprechen über ihre bisherigen Erfahrungen. Melina steht noch am Anfang ihrer Karriere. Sie habe zuletzt in einer Kompagnie in Tschechien getanzt, die so streng war, dass ihr fast gänzlich die Freude am Tanz verging. Da habe sie lieber hingeschmissen und sich in Spanien als Freelancerin für einzelne Produktionen durchgeschlagen.

Evita ist älter, hat schon in verschiedenen Kompagnien Amerikas getanzt und möchte langsam wieder näher an ihre Heimat Zypern kommen. „Aber vorher will ich alles an Erfahrung mitnehmen, was geht.“ Von der Arbeit der Innsbrucker Tanzdirektoren habe sie viel Gutes gehört. Und der erste Eindruck bestätigt ihr das. „Sie schaffen eine angenehme und kollegiale Atmosphäre“, sagt sie. Das habe sie bei ihren vielen Auditions in den vergangenen Jahren auch schon anders erlebt. Es stimmt: Schon in der morgendlichen Ballettprobe versucht das Team, eine eigentlich unmögliche Situation erträglich zu machen. Unmöglich, weil der helle Probenraum mit Blick auf die Nordkette in Wahrheit viel zu klein für vierzig Menschen in Bewegung ist. Jackie bittet die Tänzerinnen und Tänzer, gut aufeinander achtzugeben. „Pass auf deinen Nachbarn auf und respektiere seinen Raum“, sagt sie, als sie gruppenweise Sprünge und Pirouetten in der Diagonale machen sollen. „Only four people at once“, beschließt sie zur Sicherheit und lacht: „So you don’t die.“

„So you don’t die“

Jackie, Probenleiterin

Trotzdem geraten Einzelne mit ihren Drehungen immer wieder gefährlich knapp an die beiden Tanzdirektoren, die am Rand mit eingezogenen Beinen auf Stühlen sitzen. „So viele Menschen!“, ruft Marcel Leemann aus und Stefan Späti seufzt. Wenn selbst die erfahrenen Kompagnie-Leiter Schwierigkeiten haben, ihre ausgedruckten Namenslisten mit dem Geschehen vor sich zu vergleichen – dann ist es für Laien komplett undenkbar, wie man aus diesem Gewusel jemals eine Auswahl treffen soll. Unmöglich ist die Situation also nicht nur aus Platzgründen: Das Konzept eines Castings birgt eine objektivierende Grausamkeit, die mit der Idee von Tanz als Ausdruckskunst nur schwer zu vereinen ist. Automatisch versucht das Hirn nämlich, die Menschen an den Ballettstangen in Kategorien einzuteilen. Und sucht sich banale Zeichen an der Oberfläche.

Mal sind es körperliche Merkmale: elegante Finger, ein schönes Gesicht, ein perfekter Po. Mal ist es die Technik: wie leise jemand nach einem Sprung am Boden aufkommt, wie sicher eine mehrfache Pirouette gelandet wird, wie hoch das Spielbein im Arabesque penchée gestreckt wird. Auch das Styling will wohlüberlegt sein: In dieser Kategorie stechen vor allem jene Männer ins Auge, die feminin gekleidet sind. Ein Australier mit lackierten Fingernägeln und lockigem Vokuhila hat sich für einen babyblauen Body entschieden, aus dessen tiefem Ausschnitt ein goldenes Halskettchen blitzt. Eine andere, nicht-binär wirkende Person fällt mit Pony, Haarspangen und Lippenstift auf.

Nur wenige Tänzerinnen sind im klassischen Prima-Ballerina-Look hier. Viele haben sich dazu entschieden, betont leger aufzutreten – als wäre das hier wirklich eine ganz normale Probe. Sie tragen Jogginghose und Tennissocken, wie die Zypriotin Evita, oder ein weites Shirt mit Aufdruck. Es schadet ja nicht, wenn zufällig „Wiener Staatsoper“ draufsteht. So wie bei der jungen Tänzerin, die dort in der Talenteschmiede ist. Sie scheint noch Teenagerin zu sein und zeigt sich glücklich über die Chance, überhaupt mittanzen zu dürfen. Und das können wirklich alle sein. Denn dafür, dass so ein Casting etwas Bitteres ist, macht Jackie es zu einem Erlebnis. Wie sie Bewegungen beschreibt, hat eine eigene Poesie. Besonders, als es daran geht, eine Choreografie aus dem Repertoire zu lernen – und die Schrittfolgen innerhalb kürzester Zeit mit Leben zu füllen. „Passt auf eure Hände auf“, sagt sie und zeigt es: „Wir machen kleine Akzente: Ba, ba, ba! Die Hände dann so ausstrecken, als wären sie nass und ihr wolltet das Wasser abschütteln.“ Für eine Schrittfolge sollen sich die Tanzenden fühlen, als bewegten sie sich durch einen Raum, der mit einem zähen Material gefüllt ist: „Etwas, das noch viel viskoser als Wasser ist“. Eifrig überarbeitet die Gruppe ihre Bewegungen erneut.

Zu diesem Zeitpunkt haben die Tänzerinnen und Tänzer schon mehrere Stunden Training absolviert und sich unzählbare Schrittfolgen eingeprägt, die sie nach der einstündigen Pause wieder abrufen müssen. Schweißdampf liegt in der Luft und Evita setzt sich an den Rand, um ihre blutige Socke von der Ferse zu ziehen. „Sometimes we bleed“, sagt sie mit einem Lächeln, klebt ein Pflaster auf die offene Stelle und reiht sich wieder in die Gruppe ein.

„Sometimes we bleed“

Evita, Tänzerin

Hier zu sein, ist augenöffnend für jemanden, der Tanz sonst nur von den weichen Polstersesseln des Theaters aus genießt. Jeder und jede hier hätte es auf seine oder ihre Weise verdient, oben auf der Bühne zu stehen. Es sind allesamt schöne, leidenschaftliche Menschen, die fast ihr ganzes Leben auf einen Tag wie diesen hintrainiert haben. Doch nicht jede und jeder hat das, was in diesem Moment, für diese eine Kompagnie, für die nächsten paar Stücke gesucht sein wird. Eine wunderschöne Ballerina, die nach laienhafter Bewertung mit ihrer grazilen Figur und ihrer fast perfekten Technik geradezu eine sichere Wahl sein müsste, wird nach der Mittagspause nicht mehr weitermachen dürfen. Für die zeitgenössischen Stile fehlte ihr die Lässigkeit. Obwohl sie sich allergrößte Mühe gab, wirkte sie beim wilden und freien Durcheinandertanzen mit Marcel Leemann fast ungelenk, brachte nicht dieselbe Geschmeidigkeit und Leichtigkeit zum Ausdruck wie ihre muskulöseren, körperlich schwereren Kolleginnen.

Doch diese Geschmeidigkeit ist längst nicht alles: Bei den Paarübungen zeigt sich, wie sehr es auch auf den Kontakt zu den anderen ankommt. Dass man sich einlassen können muss, vertrauen können muss, kommunizieren ohne Worte. Es ist Glückssache, wem man zugeordnet wird. Bei manchen der Paare entsteht spontan eine sichtbare Verbindung, die sich wie ein funkelnder Silberfaden zwischen den Gesichtern entspinnt. Es ist berührend, wenn die Körper sich verständigen und eine Einheit bilden. Am Ende des Castings, nach sicher sechs Stunden fast durchgehenden Tanzens, sind nur noch rund fünfzehn Menschen übriggeblieben. Jetzt sollen sie improvisieren. Zu zufällig ausgewählten Musikausschnitten dürfen sie zeigen, was sie zeigen wollen. Wenn die Musik stoppt, sollen sie ans Mikro treten, um etwas Aussagekräftiges über sich selbst zu sagen. Etwas, das in Erinnerung bleibt, nicht zu überheblich, aber sicher wirkt, witzig aber nicht überdreht rüberkommt. Man möge das einmal zuhause allein vor dem Spiegel versuchen, ohne rot zu werden.

Doch wie Wildblumen auf einer Wiese gehen die einzelnen Tänzerinnen und Tänzer jetzt noch einmal völlig auf, sobald der Schein der Musik auf sie fällt. Jede Bewegung ist ein Ausdruck ihrer individuellen Tanzgeschichte – einer Geschichte von Freude und Kampf, von Hoffnungen und Enttäuschungen, von Herkunft und Zielen. Jede dieser Improvisationen ist einmalig in der Welt und schmerzhaft schön. Denn jeder einzelne Tanz am Ende dieses langen Tages sagt: Hey, das bin ich. Nehmt ihr mich so?

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Das sind die Neuen

Für die Spielzeit 2024/25 wurden drei neue Mitglieder ausgewählt, die das Tanzensemble ergänzen werden. Catarina Abreu und Eskil Dorrepaal haben an der Audition teilgenommen und konnten dabei überzeugen. Die Dritte, Mariana Romão, war an diesem Tag verhindert, habe jedoch bereits in einem anderen Kontext mit dem Ensemble getanzt und bleibenden Eindruck hinterlassen, so die Tanzdirektoren Marcel Leemann und Stefan Späti. Schön für Abreu und Dorrepaal: Die beiden kennen sich bereits sehr gut. „Dass Catarina und Eskil gemeinsam in Lissabon studiert und sogar zusammenwohnt haben, wussten wir zur Zeit der Audition nicht“, erzählen die Tanzdirektoren. „Das haben wir erst erfahren, nachdem wir sie engagiert hatten – ein totaler Zufall.“ Die Auswahl von schließlich nur zwei Menschen aus mehr als vierzig sehr talentierten Tänzerinnen und Tänzern sei für sie diesmal schwer gewesen. „Hätten wir mehr freie Plätze gehabt, hätten wir gerne der einen oder anderen noch einen Job angeboten.“

Catarina Abreu (c) privat

„Catarina verfügt über eine starke Technik, sowohl im klassischen Ballett als auch in zeitgenössischen Tanzstilen. Sie fiel auch durch ihre physischen Fähigkeiten und ihre Eleganz, gepaart mit einer gewissen Sportlichkeit sowie Natürlichkeit, auf. Darüber hinaus beeindruckte sie uns mit ihrem Einfühlungsvermögen und ihrer schnellen Auffassungsgabe. Catarina macht sich Bewegungen sofort zu eigen und verleiht ihnen eine persönliche Handschrift.“

Marcel Leeman und Stefan Späti, Tanzdirektoren

Eskil Dorrepaal (c) privat

„Eskil hat vor allem durch seine Kraft beeindruckt. Er hat sehr viel Power und eine starke physische Präsenz. Er erwies sich zudem als sehr dynamisch, kreativ und schnell. Dazu kommt, dass er als nordischer, blonder Typ neue Facetten und einen etwas anderen Look in unser Ensemble bringt. Wir hatten den Eindruck, dass er sehr gut in unsere bereits bestehende Gruppe passt.“

Marcel Leeman und Stefan Späti, Tanzdirektoren

Mariana Romao (c) privat

„Mariana ist ebenso ein ganz besonderer Typ. Sie ist groß und verfügt über eine virtuose Technik, auch auf Spitze. Bei aller Schönheit und Zartheit ist sie überraschend energetisch und kraftvoll. Sie zeichnet sich darüber hinaus durch ihre Professionalität, ihre schnelle Auffassungsgabe und ihre Erfahrung aus.“

Marcel Leeman und Stefan Späti, Tanzdirektoren

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