Nächte in Shinjuku

Viele Dinge sind in Japan tabu und schambehaftet. Dazu gehören auch
Jugendobdachlosigkeit oder Menschen mit Behinderung. Trotzdem – oder gerade
deswegen – rückt der Fotograf Yusuke Nagata diese Themen in den Mittelpunkt.

von Jakob Häusle
Auch wenn man es nicht sieht, hat dieses Mädchen kein Zuhause. Yusuke Nagata macht Jugendobdachlosigkeit sichtbar. (c) Yusuke Nagata

Für die dämlichen Komödien, die Gil Pender in Hollywood schreibt, wird er gut bezahlt. Aber sein Job erfüllt ihn nicht. Er möchte Schriftsteller sein. Während einer Reise mit der Familie seiner Verlobten nach Paris besucht er eine Weinverkostung und verirrt sich auf dem Weg zurück ins Hotel. Er nimmt auf einer Treppe Platz, um sich zu sammeln. Dann schlägt die Uhr Mitternacht. Ein altmodisches Auto fährt vor und Gil steigt ein. Plötzlich findet er sich im Paris der 1920er-Jahre wieder. Er trifft große Künstler wie Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, Cole Porter oder Pablo Picasso. Die nächtlichen Zeitreisen verändern sein Leben. Am Ende braucht er die Vergangenheit nicht mehr, weil er in der Gegenwart angekommen ist. Er lässt sein mondänes und oberflächliches Leben hinter sich, schreibt sein Buch fertig und bleibt in Paris. Das Leben, das er immer führen wollte, beginnt.

New York, New York.

Woody Allens „Midnight in Paris“ ist der absolute Lieblingsfilm des japanischen Fotografen Yusuke Nagata. Wohl auch deshalb, weil sein Leben viele Parallelen mit dem von Gil Pender hat. Bis zu seinem 30. Geburtstag war der studierte Geologe als Geschäftsmann in Tokio tätig. „Mein Leben war langweilig und so wollte ich eigentlich nie werden“, sagt er heute über diese Zeit. 2018 ging er damals noch als Hobbyfotograf für drei Monate nach Amerika, um mit seiner Kamera das Leben in New York zu dokumentieren. Die Erfahrung, die er dort machte, veränderte alles. Er hing seinen Brotberuf an den Nagel und widmete sich nur mehr der Fotografie.

Geboren wurde der mittlerweile 37-jährige Künstler in Hokkaido, im Norden Japans. Als er ein Jahr alt war, zog seine Familie nach Tokio, wo er auch heute noch lebt. Immer wenn es dunkel wird, bricht Yusuke Nagata auf, um das Nachtleben von Shinjuku, einem Bezirk von Tokio, zu dokumentieren. „Untertags verhalten sich alle wie Roboter und versuchen, in der Menge nicht aufzufallen. Aber in der Nacht legen die Menschen die Kontrolle ab, zeigen, wer sie sind, und machen verrückte Dinge. Diese Momente möchte ich festhalten“, sagt er.

(1) Eine Frau raucht alleine in Einer Bar. Bild aus der Serie „Tokyo Night Colors“. (c) Yusuke Nagata

(2) Yusuke Nagata fotografiert vor allem analog. Auch weil er seine Bilder nicht sofort sehen will. (c) Yusuke Nagata

Die Momente des Nachtlebens, die er einfängt, sind mehr als ein Ausdruck leerer Ekstase. Nagata will Menschen zeigen, die sich, zumindest temporär, aus ihrem Korsett befreien. Wie in jeder Kultur gibt es auch in der japanischen Regeln. Wer sich nicht an sie hält, muss mit Ächtung rechnen. Für Nagata gibt es aber einen großen Unterschied zum Westen: „In amerikanischen Videospielen sieht man die Welt aus der Sicht des Protagonisten. In japanischen Videospielen, wie Super Mario, sieht man den Hauptcharakter immer von außen. Die Menschen in Japan blicken immer von außen auf sich und achten sehr darauf, wie sie wahrgenommen werden.“

Jung, schön und obdachlos.

Das sieht man auch in den Bildern, die Yusuke Nagata während seiner nächtlichen Streifzüge durch Shinjuku zwischen 2019 und 2021 aufgenommen hat. Damals knüpfte er enge Kontakte mit obdachlosen Jugendlichen, die ihre Abende auf der Straße verbrachten. Von außen sieht man nicht, dass diese jungen Menschen kein Zuhause haben. Ihre Outfits sind nicht nur sauber, sondern auch stylisch. Die Frisuren sitzen und fast alle haben ein Smartphone. „Niemand will, dass andere glauben, man sei obdachlos“, sagt Nagata.

Jugendobdachlosigkeit ist oft unsichtbar, aber alles andere als selten. Viele werden von den Eltern rausgeworfen oder laufen selbst weg, weil sie es nicht mehr aushalten. „Eine Ursache ist die Armut. Aber auch häusliche Gewalt ist ein Problem, für das wir keine Lösung haben“, sagt der Fotograf. Wenn die Teenager etwas Geld haben, nehmen sie sich oft zusammen ein Hotelzimmer. Wenn nicht, bleiben sie auf der Straße. Oft prostituieren sich laut Nagata obdachlose Teenagerinnen, um etwas Geld zu bekommen und zumindest für eine Nacht in einem Bett zu schlafen, auch wenn es das Bett ihres Freiers ist.

Zwei Teenagerinnen, die von zu Hause weggelaufen sind. (c) Yusuke Nagata
Der Künstler als Seismograph.

Yusuke Nagata möchte mit seinen Bildern Missstände sichtbar machen. Darin sieht er seine Aufgabe als Künstler: „Ich möchte Augen öffnen, ich möchte Geschichten erzählen, ich möchte der Kanarienvogel im Kohlekraftwerk sein.“ Früher brachten Bergarbeiterinnen einen Käfig mit zur Arbeit, in dem sich ein Kanarienvogel befand. Wenn bei der Arbeit giftige Stoffe austraten oder der Sauerstoff knapp wurde, diente der Tod des Vogels als Warnsignal. „Kunstschaffende beobachten die Welt. Sie müssen einen Sensor haben, um Veränderungen wahrzunehmen. Es ist ihre Pflicht, auf Dinge hinzuweisen, vor allem auf Dinge, die falsch laufen. Wenn sie es nicht tun, sind sie nicht nur schlechte Künstlerinnen und Künstler, sondern auch schlechte Menschen.“

Die Scham.

Auch in einem seiner aktuellen Projekte widmet sich Yusuke Nagata einer unsichtbaren Gruppe. Er möchte das Leben von Menschen mit Behinderung in Japan dokumentieren: „Obwohl es auch in Japan Menschen gibt, die eine körperliche oder eine kognitive Beeinträchtigung haben, spielen sie im Stadtbild keine Rolle“, sagt er. Ein Kind oder ein Familienmitglied mit einer Behinderung zu haben, ist schambehaftet. Und weil viele nicht wollen, dass über sie gesprochen wird, verstecken sie Familienmitglieder mit Behinderung oft zu Hause. „Mein Onkel kann nicht mehr gehen. Trotzdem treffen wir uns manchmal in einem Restaurant. Dann spüre ich die Blicke der Menschen und merke, dass sie über ihn reden.“ Es ist also schwierig, Menschen mit Behinderung außerhalb der Familie überhaupt zu finden, geschweige denn, sie zu fotografieren. Genau das will Nagata ändern: „Ich möchte Porträts von Menschen mit Behinderung machen. Ich will zeigen, dass das normal ist und sich niemand dafür schämen muss.“

Egal, ob Yusuke Nagata Leute in durchzechten Nächten, jugendliche Obdachlose auf der Straße oder Menschen mit Behinderung in ihren Häusern fotografiert – er will stets zeigen, was im durchgetakteten und manchmal auch problemblinden japanischen Alltag oft verloren geht. Bei seiner Motivauswahl lässt sich Yusuke Nagata von seiner Neugier leiten. Für ihn ist sie synonym mit seinem Leben als Fotograf: „Ich glaube, wir Künstlerinnen und Künstler bleiben neugierig, bis wir sterben“, sagt er.

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