Was hat Sie interessiert, als Sie jung waren?
Bernhard Aichner: Alles andere als der Schulstoff (lacht). Also Deutsch war schön und im Schulchor zu singen auch. Wichtiger waren natürlich die Liebe, die Gefühle, ich wollte in die Welt hinausrennen. Als junger Mensch ist man mit tausend Dingen beschäftigt und mit vielem überfordert. Heute vielleicht noch mehr als damals. Wir sind vom Social-Media-Wahn noch verschont geblieben, das war unser Glück. Natürlich bietet die Technik heute viele Möglichkeiten, aber das ist schon ein brutales Gift, das schlimmer ist als viele der Drogen, vor denen Eltern Angst haben.
Wovor wollten Sie wegrennen?
Ich war ein wahnsinnig schlechter Schüler. Ich bin zweimal in der siebten Klasse sitzen geblieben. Das hat mich fertiggemacht und gedemütigt. Aus diesem Loch wieder herauszukommen, war schwer. Ich habe dann in Innsbruck die Abendschule besucht. Das war toll, ich arbeitete nebenbei, verdiente Geld, war selbstständig. Verantwortung für mich selbst zu übernehmen, war die beste Schule überhaupt.

Bernhard Aichner (1972) lebt in Innsbruck und im Südburgenland. Er schrieb mehrere Hörspiele und Romane, bis er 2014 mit seinem Thriller „Totenfrau“ den internationalen Durchbruch als Autor feierte. Seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt, die „Totenfrau“-Trilogie von Netflix und dem ORF verfilmt.
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Es ist noch recht früh, macht Ihnen das etwas aus?
Nein, ich bin Frühaufsteher. Seit wir Kinder haben, bin ich schon gegen sechs munter und fange dann eigentlich gleich an, zu schreiben. Am Morgen zu schreiben, ist eigentlich das Schönste. Wenn alles wie ein weißes Blatt Papier ist.
Ferdinand von Schirach sagt, dass man sich vor dem Schreiben waschen, rasieren und schön anziehen soll, weil ansonsten „Bademantelliteratur“ dabei herauskommt. Wie sehen Sie das?
Ich glaube, da irrt er sich. Ich schreibe sehr gerne im Bett. Meine Kinder sagen immer, mein Beruf ist einer der wenigen, den man auch im Liegen ausüben kann. Die Seiten, die ich im Pyjama schreibe, sind meistens die besten (lacht).
Schreiben Sie per Hand?
Die Erstfassung schreibe ich immer mit der Hand in mein Notizbuch. Man braucht dazu keinen Strom, ist nicht abgelenkt von E-Mails oder Facebook. Und man kann es überall und immer tun. Das hat mir schon als Jugendlicher große Freude bereitet: einfach mit Blatt und Stift in den Wald zu gehen und dort meine Gedichte zu schreiben.
Schreiben Sie täglich?
Eigentlich schon. Ich kann nicht anders. Wenn ich nichts schaffe, werde ich unrund. Ich liebe es, in meine Geschichten abzutauchen und sie Stück für Stück erlebbar zu machen. Ich kann mich dem nicht entziehen. Schreiben ist wie eine schöne Sucht.
Sie haben mittlerweile etwa eine Million Bücher verkauft, die in 16 Sprachen erschienen sind. Auch die zweite Staffel von „Totenfrau“ auf Netflix kommt sehr gut an. Viele Jahre lang haben Sie aber ohne großen Erfolg geschrieben. Was hat sich geändert?
Es waren tatsächlich sieben Bücher, die ich neben meinem damaligen Beruf als Fotograf geschrieben habe, die sich mäßig erfolgreich verkauft haben. Mein Durchbruch hatte sicher viel mit Übung zu tun. Ich habe gelernt, wie man spannend erzählt, dramaturgisch am Punkt, sprachlich gereift. Und dazu brauchte es dann noch eine gute Idee und einen Sack voll Glück. Dann hat es Boom gemacht.
Sie sprechen von der „Totenfrau“?
Ja, genau, von Brünhilde Blum: eine Frau, die Männer umbringt, eine Frau, die sich rächt, die Bestatterin, die ihre Opfer in Särgen verschwinden lässt. Das hatte es so noch nicht gegeben. Ich bin als Autor immer auf der Suche nach solchen Plots. Frage mich, womit ich meine Leserinnen und Leser überraschen kann. Womit ich mich gerne über ein Jahr lang beschäftigen möchte. Dann beginne ich, zu schreiben, und genieße es.
Was haben Sie aus der Fotografie fürs Schreiben gelernt?
Das Beobachten, das genaue Hinsehen und Erfassen einer Situation. Das Denken in Bildern. Lesen soll im besten Fall hochemotionales Kopfkino sein.
Was fasziniert Sie so an Frauenfiguren, die Rache üben?
Rache war immer schon ein Thema, das mich fasziniert hat. Etwa „Der Graf von Monte Christo“ oder „Kill Bill“. Ich wollte den Spieß in einer Welt, in der Männer Frauen töten, umdrehen. Eine Frau ermächtigen, sich zu wehren. Es macht Spaß, das Patriarchat, die Hegemonie der Männer mehr oder weniger zu zerstören.
Ich wollte den Spieß in einer Welt, in der Männer Frauen töten, umdrehen.
Sie haben eben „Kill Bill“ angesprochen. Quentin Tarantino ist ja allergisch auf Fragen nach der Gewaltdarstellung in seinen Filmen.
Verstehe ich.
Dennoch die Frage: Wie würden Sie begründen, wieso Sie die gewaltvollen Szenen in Ihren Büchern auf blutrünstige Art und Weise darstellen?
Ich bemühe mich immer, das nicht auszureizen. Gewalt nicht zu zelebrieren. Man könnte manche Szenen bestimmt über fünf Seiten beschreiben, ich begnüge mich mit einer halben. Ich lasse die Leserinnen meine Skizzen in ihren Köpfen ausmalen, jeder entscheidet selbst, was für ihn erträglich ist.
Kann Fiktion jemals schlimmer sein als die Realität?
Ich bin oft schockiert, wenn ich die Zeitung lese. Manche Schicksale sind so verstörend, manche Morde so grausam, dass ich niemals dazu in der Lage wäre, mir so etwas nur im Ansatz auszudenken. Die Wirklichkeit macht mir definitiv mehr Angst als die Fiktion.
Manche Menschen würden es vielleicht paradox finden, dass Sie so nett witzeln können und auch daheim ein liebevoller Vater sind, aber gleichzeitig blutrünstige Sachen schreiben. Können Sie dieses scheinbare Paradox für uns auflösen?
Die Krimis stapeln sich in den Buchhandlungen nicht ohne Grund. Ich glaube, fast alle mögen es, ein bisschen auf die dunkle Seite zu gehen, dem Bösen über die Schulter zu schauen. In dem Wissen, dass eigentlich alles gut ist, sobald man das Buch zuschlägt. Dass man eintauchen kann, sich gruseln darf, so wie man es als Kind getan hat, wenn man Märchen vorgelesen bekam. Das lieben wir heute, als Erwachsene, immer noch. Wir spielen Uno mit unseren Kindern, legen uns dann auf die Couch und lassen in Gedanken Blut fließen.
Woher, glauben Sie, kommt diese „Angstlust“?
Vielleicht geht es um Adrenalin. Wir wollen etwas erleben. Uns spüren und dem Bösen in uns ein Stück begegnen. Es geht darum, mit Aggression, Kränkung, Wut oder Zorn umzugehen. Ich bin überzeugt davon, dass wir alle zu einem Mord fähig wären, bin aber heilfroh, dass die allermeisten sich dafür entscheiden, es nicht zu tun. Und schlussendlich lieber ein Buch lesen.
Glauben Sie, die Menschen sind im Grunde gut?
Ich frage mich immer wieder, wie dieses „Böse“ im Menschen entfesselt wird. Wie jemand zum Mörder wird und Dinge tut, die man sich nie hätte vorstellen können. Ich liebe es in die Täterpsyche einzutauchen. Möchte verstehen, warum sich der Schalter plötzlich umlegt. Von Buch zu Buch verstehe ich es ein Stück besser. Im Grunde meines Herzens aber glaube ich, dass wir alle friedlich miteinander leben können. Wenn sich jeder ein klein wenig mehr bemühen würde, könnte das klappen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Der neue Aichner-Thriller „John“ erscheint am 17. Juni. Das erste Kapitel können Sie jetzt EXKLUSIV im 20er nachlesen!

Bernhard Aichner, John
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