Was heißt es, in Österreich arm zu sein?
Andreas Koch: In Österreich arm zu sein bedeutet – offiziell gesprochen –, dass man am üblichen kulturellen und gesellschaftlichen Leben nicht in dem Maße teilhaben kann, wie das für den Durchschnitt der Bevölkerung zutreffend ist. Diese Definition der relativen Armut versucht einen Zugang zu finden, der über das reine Einkommen hinausgeht. Wenn Sie soziale Sicherung bekommen, dann haben Sie vielleicht die monetären Möglichkeiten, gewisse Dinge zu bezahlen: Essen, Trinken, Mindestversorgung an medizinischen Behandlungsmöglichkeiten und Medikamenten, sofern Sie die brauchen. Aber was damit noch überhaupt nicht geklärt ist, ist die Frage, welchen Zugang Sie dazu überhaupt haben. Welche Möglichkeit habe ich, wirklich gesund leben zu können, regelmäßig zum Arzt, zur Ärztin gehen zu können, um mich untersuchen zu lassen, damit ich nicht chronisch krank werde? Welche Möglichkeiten haben ich und meine Kinder, eine gute Schulausbildung zu genießen, um die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen? Weil das einfach der entscheidende Markt ist, auf dem man seine Fähigkeiten anbieten muss. Es fehlt an alternativen Möglichkeiten. Wohnen ist auch so ein Thema, das uns schon sehr lange beschäftigt. Ich kann tausend Euro im Monat überwiesen bekommen für die Miete – das garantiert mir aber noch nicht, dass ich eine Wohnung bekomme.
Was sind die täglichen Herausforderungen und Probleme, denen Menschen in Armut gegenüberstehen?
Das hängt schon von den Grundvoraussetzungen ab. Habe ich eine Wohnung mit einem stabilen Mietverhältnis? Habe ich ausreichende Geldmittel, um nicht nur für mich selber, sondern auch für meine Kinder, für meine Verwandten sorgen zu können? Habe ich pflegebedürftige Kinder? Wenn man vom Geld absieht, wie sieht mein Alltag aus?
Wie gelingt es mir, meine Geldmittel so einzuteilen, dass ich gut über den Monat komme? Wie schaut es aus, wenn das Kind auf einen Ausflug, auf Wandertag oder eine Ferienwoche gehen soll? Ich muss frühzeitig planen, versuchen, Geld zurückzulegen, um das dann in einem halben Jahr finanzieren zu können. Und so rotiert es in den Köpfen der armutsgefährdeten, armen Menschen wahrscheinlich sehr, sehr oft.
Zur Person
Andreas Koch (geb. 1965) ist ein deutscher Armutsforscher und Sozialwissenschaftler, der sich mit Armut und sozialer Ungleichheit beschäftigt. An der Universität Salzburg forscht er zur räumlichen Verteilung von Armut und deren gesellschaftlichen Folgen. Seine Arbeit verknüpft ökonomische, soziologische und geografische Perspektiven, um ein besseres Verständnis von Armut zu fördern.
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Wenn die Dimensionen der Armut so vielfältig sind, wie kann man sie dann überhaupt messen?
Es gibt Möglichkeiten, aber diese Messung erfasst Armut nicht in dem Sinne, wie wir uns das vielleicht vorstellen, dass wir sagen, ich habe jetzt diesen Wert und kann diese Person einordnen in sehr arm, arm, weniger arm oder gar nicht arm. Diese Armutsmessmethoden sehe ich viel eher als einen Indikator, als ein Werkzeug, um mit dessen Hilfe weiter arbeiten zu können. Ich kann zum Beispiel die Armutsgefährdungsquote messen. Das ist ein empirischer Zugang. Dafür sortiere ich die Haushalte in Österreich nach ihrem Einkommen, gehe dann in die Mitte, das ist der Median, und nehme davon 60 Prozent. Wer unterhalb dieser 60-Prozent-Marke ist, gilt als armutsgefährdet. Das wird dann auch noch gewichtet, wenn mehrere Personen im Haushalt sind. Damit habe ich mal eine Richtgröße und muss dann schauen, wie die weiteren Lebensverhältnisse sind.
Wie viele Menschen leben in Österreich und Tirol unter dieser Armutsgefährdungsschwelle?
Die Armutsgefährdungsschwelle geht immer mit dem empirischen Medianwert der Einkommen mit. Sie liegt derzeit bei 1.572 Euro im Monat bei einer alleinstehenden Person. Die Zahl der Menschen unter dieser Schwelle geht leicht zurück, durch Krisenphasen wie Corona ist sie aber temporär wieder angestiegen. In Österreich sind es knapp 15 Prozent. (In Tirol 13,5 Prozent, Landesstatistik Tirol, Anm. d. Red.)
Wie haben sich die Pandemie oder die Teuerungswelle auf die Situation ausgewirkt?
Die Teuerungswelle hat erst einmal dazu geführt, dass das Wohnen viel teurer geworden ist. Jetzt muss man ein sowieso schon knappes Einkommen noch einmal anders umschichten. Es ist ja in Österreich die Indizierung der Wohnkosten geblieben, die Anpassung der Miete an die Inflationsrate. Es ist eine dramatische Entwicklung, aber es gibt sozialpolitische Maßnahmen, die das durchaus erfolgreich abfedern. Die Corona-Krise hat dazu geführt, dass viele Berufe, die keine zertifizierte Qualifizierung wie Matura oder Studium brauchen, in der Gastronomie, im Tourismus weggebrochen sind. Manches davon ist durch Kurzarbeit aufgefangen worden. Aber es gibt viele Bereiche, wo Kurzarbeit nicht umgesetzt wurde oder werden konnte und wo es dann für viele sehr, sehr schwierig geworden ist, mit alternativen Unterstützungsmaßnahmen klarzukommen.
Welche Rolle spielen die staatlichen Institutionen bei Armut?
Also auf der einen Seite trägt der Staat dazu bei, dass es wenig Alternativen gibt außer dem Arbeitsmarkt. Das ist ja das, was in den 1980ern mit dem Aufkommen des neoliberalen Staates auch schon früh kritisiert worden ist. Man hat die Menschen seit der Industrialisierung in den Arbeitsmarkt hineingezwungen. Dann kam Ende des 19. Jahrhunderts die Phase mit sozialstaatlichen Sicherungssystemen. Derzeit ist man dabei und versucht, eigentlich noch über den Marktansatz und über den staatlichen Ansatz hinaus, weitere alternative Möglichkeiten für ein gutes Leben voranzubringen. Der Sozialstaat auf der einen Seite, wenn man so will, top down, der dafür sorgt, dass die schlimmsten Notlagen abgewendet werden können – mit der Grundsicherung, mit zusätzlichen Wohnbeihilfen, Energiebeihilfen und manchmal auch Sachleistungen. Das ist eine Möglichkeit. Aber auf der anderen Seite sorgt der Staat auch dafür, dass es nach wie vor kaum außerstaatliche, außermarktliche Möglichkeiten einer guten Lebensführung gibt.
Sozialpolitische Maßnahmen sind gut und wichtig, aber sie kommen von oben nach unten und sie generalisieren sehr stark. Es komplementär mit Bottom-up-Ansätzen zu versuchen, bringt uns der Lösung einen Schritt näher.
Kann es überhaupt eine Gesellschaft geben ohne Menschen, die im Vergleich zu anderen arm sind?
Wenn man es auf diese Einkommensarmut bezieht, nein. Ich glaube, keiner von uns will in einer Gesellschaft leben, wo wir alle exakt das gleiche Einkommen haben. Aber es stimmt schon, dass Armut kein Krisenphänomen ist, sondern dass Armut strukturell angelegt ist und es eigentlich kaum ernstgemeinte politische Ansätze der Überwindung gibt. Sondern man betreibt Armutspolitik, Sozialpolitik ganz stark auch deswegen, um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt nicht zu gefährden.
An welchen Stellschrauben müsste man drehen, um die Ungleichheit zu reduzieren, aber auch, um die Armut zu lindern?
Ich würde ganz stark auf einen lokalen Ansatz setzen, um die spezifischen Fragestellungen, die armutsgefährdete Personen haben, auch entsprechend beantworten zu können. Natürlich braucht es auch auf den übergeordneten Ebenen Rahmenbedingungen, die dafür sorgen, dass ich auf der lokalen Ebene entsprechend handeln kann. Es braucht zum Beispiel eine entsprechende Steuergesetzgebung, die nach Möglichkeit global, aber zumindest auf EU-Ebene verankert ist. Man muss aber dann die Möglichkeit haben, auf der kommunalen Ebene entsprechende Unterstützungsmaßnahmen anzubieten. Das kann in einer Gemeinde ein Wohnbauprogramm sein. Die andere Gemeinde sagt, wir haben aufgrund historischer Bedingungen Abwanderung – das Wohnproblem ist bei uns nicht so groß, aber bei uns ist es die Gesundheitsversorgung. Oder bei uns hat man die Schule geschlossen. Da braucht es ganz spezifische Maßnahmen, die sehr unterschiedlich ausschauen. Hier konkret anzusetzen ist meines Erachtens ein viel effizienterer Zugang, um Armut zu verhindern und zu bewältigen.
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