„Arbeitskräftemangel“ hallt es landein, landaus. Und die Zahlen sprechen für sich: 113.000 offene Stellen in ganz Österreich, 7.850 waren es im März allein in Tirol. Die Quote der Menschen ohne Erwerbstätigkeit liegt so niedrig wie seit 31 Jahren nicht mehr – zuletzt bei knapp 3,5 Prozent. „Wir starten mit Vollbeschäftigung in den Frühling und die Arbeitslosigkeit sinkt weiter“, jubelt das Arbeitsmarktservice, um nachzulegen: „Die Anzahl der offenen Stellen ist zwar leicht rückläufig, von einer Entspannung des Personalmangels sind wir aber meilenweit entfernt.“
Das ist die Realität in Tirol, Österreich und Europa. Bereits im Jahr 2021 gaben drei von vier Tiroler Unternehmen an, direkt vom Fachkräftemangel betroffen zu sein. Ohne Gegenmaßnahmen, so prognostiziert die Wirtschaftskammer, wird es im Jahr 2040 mehr als 560.000 offene Stellen in Österreich geben. In Tirol fehlen dann zumindest 30.000 Personen im erwerbsfähigen Alter. Schuld ist zuallererst die Bevölkerungsentwicklung bei rückläufigen Geburtenraten: „In den Fünfzigerjahren kamen auf eine Person im Pensionsalter noch sechs Personen im erwerbsfähigen Alter. Heute sind es nur mehr drei Personen und 2040 werden es knapp zwei Personen sein“, weiß Arbeitsmarktökonom Stefan Angel vom Wifo. Das bringt nicht nur die Unternehmen ins Schwitzen, sondern hat auch schwerwiegende Auswirkungen auf die Volkswirtschaft und den Wohlstand im Lande. So wird laut Wifo das BIP im Jahr 2040 um rund neun Prozent oder 50 Milliarden Euro geringer ausfallen als heute. Die jährlichen Verluste für Tirol sind mit 4,2 Milliarden budgetiert. In keinem anderen Land Europas ist nach einer Auswertung des Wiener Neos-Labs auf Basis von Eurostat-Daten der Personalmangel akuter als in Österreich – und zwar heute schon. Arbeitskräfte fehlen nicht nur im Tourismus- und Gastgewerbe, sondern auch dort, wo es wehtut – in der Pflege, in Betreuungs- und Medizinberufen. Und dort, wo es schnell kritisch werden kann – im Bereich der öffentlichen Sicherheit, Infrastruktur und im Erziehungswesen. Standen 2022 noch 66 Mangelberufe auf der bundesweiten Liste, sind es 2023 schon 100. Es fehlen Ärztinnen ebenso wie Elektrotechniker, Köche oder Busfahrerinnen.
Neben Pensionierungswellen sind auch hohe Teilzeitquoten ausschlaggebend. „Man muss sich fragen: Wo gibt es stille Reserven? Und welche Hinderungsgründe führen dazu, dass Menschen nicht oder nur teilweise in den Arbeitsmarkt finden?“ Laut Arbeitsmarktökonom Angel waren 2022 österreichweit rund 84.000 Personen sofort verfügbar und arbeitswillig, jedoch aus verschiedenen Gründen nicht berufstätig. An erster Stelle stehen dabei immer noch die Betreuungspflichten, die überwiegend von Frauen geleistet werden. Tirol ist das Bundesland mit der höchsten Frauen-Teilzeitquote. Nur ein Drittel aller Frauen arbeitet bei uns Vollzeit und ganzjährig, warnt das AMS. „Man braucht den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung als Instrument, damit sich etwas bewegt“, sagt die neue AMS-Landesgeschäftsführerin Sabine Platzer-Werlberger. Im Grunde würden Betriebe diesen Ausbau genauso dringend benötigen wie Frauen und Kinder. „Wir sprechen hier von potenziellen Fachkräften, die zu Hause bleiben, weil sie aufgrund der derzeitigen Situation in Tirol nicht Vollzeit arbeiten können.“ Mehr und längere Betreuungsangebote hat Landesrätin Cornelia Hagele zugesichert. Bis wann sie zur Verfügung stehen (auch in der Elementarpädagogik fehlt Personal), bleibt offen.

Aus eigener Kraft werden sich die offenen Stellen ohnehin nicht besetzen lassen. Will die Wirtschaft weiter wachsen, braucht es qualifizierten Zuzug – da sind sich Expertinnen und Experten einig. Doch momentan gehen hochausgebildete Fachkräfte lieber in Länder wie Großbritannien oder Deutschland. Im OECD-Vergleich ist Österreich wenig attraktiv. „Das Lohnniveau ist nicht der einzige Punkt. Ob Fachkräfte kommen, hängt auch mit der Lebensqualität, den Ausbildungsmöglichkeiten für nächste Generationen und der Willkommenskultur zusammen“, so der Wifo-Ökonom. Bei Letztem schnitt Österreich im OECD-Ranking besonders schlecht ab, auch weil Visa-Anträge so häufig abgelehnt werden. Negativ bewertet wurden außerdem die hohe Steuerlast beim Faktor Arbeit sowie der Umstand, dass Migrantinnen und Migranten häufig unterhalb ihres Qualifikationsniveaus arbeiten. Treffend meinte Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer: Eine klare Zuwanderungsstrategie könnte den Arbeitskräftemangel entschärfen. Um fortzufahren: Es brauche aber Menschen, die in den Arbeitsmarkt integriert werden können und nicht Personen, die „auf der Parkbank sitzen und anderen beim Arbeiten zusehen.“ Immerhin zeichnet sich eine stärkere Zuwanderung am Tiroler Arbeitsmarkt bereits ab. Im Februar 2023 stieg die Anzahl ausländischer Arbeitskräfte im Vergleich zum Vorjahr um 10.593 Personen an. Menschen kommen vor allem aus Ungarn, Deutschland, aus der Ukraine, Rumänien und Kroatien und arbeiten in der Gastronomie, in der Warenherstellung, im Verkehr sowie in Gesundheits- und Sozialberufen. „Ohne diese Menschen, die häufig auch unter ihrem formalen Ausbildungsniveau als Hilfskräfte in Mangelberufen tätig sind, wäre der Personalmangel noch weitaus größer“, weiß AMS-Chefin Platzer-Werlberger.
Nicht zuletzt müssen sich auch die Betriebe anstrengen, attraktive Arbeitsplätze zu bieten und Weiterbildung zu ermöglichen. „Nur so können wir Menschen in den Jobs halten“, ist Stefan Angel überzeugt. Laut einer Erhebung der Tiroler WKO würden zwanzig Prozent der Pensionistinnen und Pensionisten gerne länger arbeiten, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Der Wifo-Ökonom spricht von „gesundheitsadäquaten Arbeitsplätzen“, die durch Gesundheitsmanagement und Monitoring ermöglicht werden müssten. Schließlich gelte es nicht nur, dem Mangel entgegenzuwirken. Man müsse auch verhindern, dass noch mehr Leute gehen.
Dafür braucht es ein offenes Ohr für die Bedürfnisse jener, die den Mangel schon heute kompensieren. In der Pflege, am Bau oder in Schulen halten sie die Stellung, hoffen auf Nachwuchs und bessere Arbeitsbedingungen. Wir haben im Rahmen unseres Dossiers mit Menschen gesprochen, die ihren Beruf sehr gerne ausüben – und gefragt, was sich ändern muss, dass auch andere diese Jobs wieder als lohnend empfinden. Lesen Sie auf den kommenden Seiten die Meinung der Expertinnen und Experten ihres Fachs.