Herr Moosbrugger, Sie haben nicht einen Job, sondern gleich mehrere. Welche sind das?
Ich bin in einem Tiroler Altenheim für das Qualitätsmanagement zuständig, habe eine eigene Patientin in der Hauskrankenpflege, arbeite in der Ordination einer Hausärztin, bin Fachreferent in der Pflegestiftung der amg-tirol und bilde an mehreren Fachhochschulen künftige Pflegekräfte aus. Manchmal helfe ich noch einer Bestatterin bei Beerdigungen. Und in meiner Freizeit spiele ich Theater im Bogentheater in Innsbruck.
Das alles machen Sie merklich gern. Was braucht man, um in diesem Feld gut arbeiten zu können?
Ich bin seit 1987 in der Pflege und für mich ist es immer noch der schönste Beruf der Welt. Ich liebe meine Arbeit, ich bin stolz auf meine Ausbildung und stolz auf das, was ich mache. Damit man in diesem Beruf glücklich wird, sollte man Flexibilität mitbringen und Begeisterung für Menschen. Ich muss Menschen wirklich mögen. Außerdem braucht man ein Interesse für Wissenschaft, für Forschung, für Veränderung. Denn man muss sich immer wieder auf neue Personengruppen einlassen in der Pflege. Du solltest außerdem historisches Wissen mitbringen oder eine gewisse regionale Verankerung. Denn jedes Dorf ist anders, und die Menschen wollen im Alter ihre Tradition wahren.
Das klingt intellektuell fordernd. Welche Klischees über Ihren Beruf nerven Sie?
Oh, da gibt es einige. Wenn es um die Akademisierung in der Pflege geht, fällt oft der Spruch: „Wir brauchen keine akademischen Schüsselträger.“ Ja, wir helfen bei der Körperpflege und Stuhlgang ist Teil des Menschen. Manchmal verbringe ich zwei bis drei Minuten damit, jemandem das Gesäß zu reinigen. Diese wenigen Minuten am Tag haben aber nichts damit zu tun, was ich in den restlichen acht oder neun Stunden mache. Wenn ich mich auf das reduzieren ließe, hätte ich wirklich einen seltsamen Beruf. Gestern Nachmittag haben wir zum Beispiel eineinhalb Stunden Kinonachmittag gemacht, haben uns „Das verflixte siebte Jahr“ angeschaut, Popcorn dazu gegessen und das Leben genossen.
Sind Pflegekräfte quasi Glücksbeauftragte?
Ja, davon bin ich überzeugt. Ich habe lang schon die Idee, einen Glücksindex für Altenheime zu entwickeln. Man könnte den bei Bewohnerinnen und Bewohnern erheben und – wie man das im Wirtschaftssprech so sagt – als Benchmark verwenden. So, wie das Land Bhutan einen nationalen Glücksindex berechnet.
Was müssen Sie denn leisten, damit Menschen in einer Pflegeeinrichtung glücklich sind?
Menschen wollen eine Aufgabe haben und wissen, warum sie da sind. Sie wollen ihren Tag selbst gestalten. Individualität macht glücklich, soziale Teilhabe macht glücklich – das kennen Sie ja von Ihren Verkaufenden. Auch Status gehört dazu: Dass ich nicht ein Objekt oder Empfänger von Pflege bin, sondern als Mensch wahrgenommen werde, der einen Wert hat. Dass meine Lebensgeschichte gewürdigt wird. Deshalb mag ich den Satz „Alte Menschen werden wie Kinder“ auch überhaupt nicht. Das ist eine Frechheit und leugnet die Lebensleistung der alten Menschen.
„Die Einrichtungen sind mitarbeiterfreundlicher geworden.“
Sehen das alle in der Pflege so wie Sie?
Eigentlich ist dieser ressourcenorientierte Blick schon Standard, das kam bereits in meiner Ausbildung vor. Natürlich sind manche Strukturen in den Einrichtungen nicht förderlich für die Individualität. Im deutschsprachigen Raum muss sich die Pflege von der Medizin erst emanzipieren und vom hierarchischen Denken befreien. Viele Pflegekräfte glauben beispielsweise, dass sie absolute Aufsichtspflicht haben – dabei findet man das in keinem Gesetz. Pfleglinge müssen auch mal hinfallen dürfen oder eine Einrichtung verlassen können, das ist ein Grund- und Freiheitsrecht.
Das in der Corona-Zeit jedoch eingeschränkt wurde …
Was wir da erlebt haben, war für uns alle schlimm. Der Gesetzgeber hat uns für Dinge eingespannt, die nicht unsere Aufgabe sind. Wir sollten Identitäten feststellen, Ausweise und den Impfstatus kontrollieren. Wir wurden dabei beschimpft und sogar geschlagen. Ich verstehe jede und jeden, der gesagt hat: Ich mag nicht mehr. In der Zeit haben wir tolle Leute verloren.
Ausgerechnet jetzt, wo wir einen gravierenden demographischen Wandel erleben: Bis 2040 soll sich der Anteil der Menschen über 85 Jahren in Tirol schon verdoppelt haben. Sind wir personell darauf eingestellt?
Nicht wirklich. Die Frage ist allerdings nicht, ob diese Quote sich verdoppelt. Die Frage wird sein: Wie fit sind die Menschen? Denn die zusätzliche Lebenszeit muss nicht mehr Pflegebedarf bedeuten. Man nennt das „compression of morbidity“ – Krankheit kommt geballt am Lebensende. Die neuen Jahre sollten wir also möglichst krankheits- oder behinderungsfrei erleben. Dann ist es egal, ob wir alle neunzig werden oder nicht.
Wir müssen alle gesünder alt werden, um den Pflegenotstand abzuwenden?
Es geht für mich nicht um einen starren Gesundheitsbegriff. Wichtig ist Funktionalität – den Alltag selbst meistern zu können. Gleich, ob ich krank bin oder eine Behinderung habe. Und noch etwas werden viele jetzt nicht gerne lesen: Wir haben gar keinen Pflegenotstand.
Haben wir nicht?
Zumindest werden die Reserven vergessen. Es gibt unzählige Menschen, die bereits in diesem Bereich ausgebildet sind, aber nicht mehr als Pflegekräfte arbeiten. Ich kann auf Anhieb 15 Leute aufzählen, die ich selbst ausgebildet habe, die gut waren und durchaus geeignet für diesen Beruf – und die jetzt beim Baumarkt an der Kasse sitzen. Wir haben diese Leute durch strukturelle Probleme vor 15 Jahren quasi aus der Pflege vertrieben. Aber es gibt jetzt neue Strukturen. Wenn wir eine Kampagne starten müssten, sollte sie lauten: „Willkommen zurück in der Pflege!“
Es ist spürbar, dass Sie inhaltlich von diesem Job begeistert sind. Gibt es auch pragmatische Gründe, in die Pflege zu gehen?
Ein Stichwort: Dienstplangestaltung. In einem Monat mit 31 Tagen arbeitet man je nach Dienstplan ungefähr 17 oder 18 Tage. Die Viertagewoche, die überall diskutiert wird: In der Pflege gibt es die schon ewig. Ja, die Arbeit ist anspruchsvoll. Aber du hast 40 Prozent des Monats frei. Und auch, wenn meine Berufskollegen mich womöglich steinigen wollen: So schlecht ist die Bezahlung der Pflegeassistenz oder Heimhilfe wirklich nicht – gemessen an der Dauer der Ausbildung. Wir reden von einer dreimonatigen Ausbildung und trotzdem geht eine normale Heimhilfe netto mit 1.500 oder 1.600 Euro nach Hause. Ich weiß kaum einen Beruf, wo du so ein Gehalt für diese kurze Ausbildungszeit bekommst. Das kann pragmatisch gesehen sicher in diesen Beruf führen. Außerdem sind die Einrichtungen in den letzten Jahren, soweit ich es überblicken kann, viel mitarbeiterfreundlicher geworden – was Dienstzeiten anbelangt und auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch Gesundheitsförderung wird ernstgenommen.
Auch politische Hebel werden betätigt. Ganz neu soll nun eine eigene Pflegelehre kommen. Was halten Sie davon?
Wenig. Ich befürchte, das könnte eine teure Totgeburt werden. Seien wir doch ehrlich: Wieso sollte ich eine drei Jahre dauernde Lehre zur Pflegeassistenz machen, wenn ich dasselbe mit einer anderen Ausbildung in einem Jahr bekomme? Wir wissen auch alle, dass die EU eine klare Richtlinie hat: Arbeit am Krankenbett erst ab 17. Somit werden diese jungen Leute bis dahin vieles nicht machen dürfen. Vermutlich werden sie mit den Menschen einkaufen gehen, den Alltag gestalten, Dekoartikel herstellen. Es gibt sicher tolle junge Leute, die gut reinpassen, und die will ich auch nicht verlieren. Aber ich glaube, wenn in ihnen das Feuer für die Pflege brennt, etwa nach einem Praktikum in der Berufsorientierung, lassen sie sich sowieso nicht abbringen. Irgendwann kommen sie, und wenn es mit 50 ist.
„So schlecht ist die Bezahlung der Pflegeassistenz oder Heimhilfe wirklich nicht.“
So wie jene Menschen, die Sie über die Pflegestiftung ausbilden? Die sind beim Arbeitsmarktservice registriert und haben es auf dem ersten Arbeitsmarkt ansonsten schwer. Sie erzählten beim 20-Jahr-Jubiläum der Stiftung, dass Ihre älteste Teilnehmerin schon fast sechzig sei. Ist da eine Ausbildung noch sinnvoll?
Ja, 58 war die älteste. Warum nicht? Wenn jemand immer schon in diesem Beruf arbeiten wollte, aber das Leben stets andere Stückerln gespielt hat, und jetzt vielleicht noch fünf, sechs Jahre in dem Beruf arbeiten kann, sagen wir sicher nicht Nein. Ich hatte schon einen ehemaligen Bergarbeiter mit Ende 50. Zu dem sagte ich bei der Abschlussfeier: „Du gehst doch bestimmt bald in Pension.“ Da lachte er nur und meinte: „Nein, ich mach das jetzt noch zwanzig Jahre.“ Das Gute ist, dass man in diesem Alter sehr nah an der Lebensrealität der Leute dran ist, die man pflegt.
Die Pflegestiftung zahlt ein Stipendium aus und baut auf enge Kooperationen mit Einrichtungen. Welche Lehren ziehen Sie daraus für die Pflegeausbildung generell?
Toll finde ich, dass wir die Möglichkeit haben, die Leute gut zu begleiten – sofern sie das wollen. Da ist auch sehr viel Persönlichkeitsentwicklung dabei. Und darum funktioniert das auch so gut: Beim letzten Lehrgang für Heimhilfen hatten wir 100 Prozent Erfolgsquote.
Das heißt konkret?
100 Prozent haben abgeschlossen und arbeiten jetzt in der Pflege. Das müssen Sie bei einer anderen Umschulung erst mal schaffen.
Wie sehen diese Erfolgsgeschichten aus?
Ich erzähle immer gern von Anna, einer Sonderschulabgängerin Mitte vierzig. Sie galt als Schulversagerin, ihre Familie hat ihr immer vermittelt, sie sei dumm und werde Hilfsarbeiterin. Irgendwie hat man Anna überreden können, eine Ausbildung zur Heimhilfe zu machen. Sie hat sich brutal schwergetan mit dem Lernen. Aber sie hatte eine Partnereinrichtung hinter sich, die sie massiv unterstützte. Alle haben sich hinter Anna gestellt, haben ihr Dinge gezeigt und mit ihr gelernt. Und so hat sie zum allerersten Mal in ihrem Leben einen Berufsabschluss geschafft. Als ich sie dann in der Praxis erleben durfte, war ich schwer beeindruckt, wie sie mit Menschen umgeht, die bereits demenziell verändert sind. Wie gern diese Leute sie haben, wie positiv die Beziehung ist und wie gut sie das mit ihnen kann. Anna ist für mich ein faszinierendes Beispiel dafür, dass Bildung lebensverändernd sein kann.
Wenn Sie selbst an das Ende Ihres Lebens denken, an dem Sie vielleicht einmal Hilfe brauchen: Wie sollte Pflege dann aussehen?
Je älter ich werde, desto mehr denke ich natürlich darüber nach. Es ist ganz einfach: Ich wünsche mir, mein individuelles Leben behalten zu dürfen. Auch wenn ich gebrechlich bin, will ich noch Freunde treffen, ins Kino oder ins Theater gehen können.
Und Theater spielen?
Ganz genau. Theater spielen will ich dann auch noch.