Der Wahrheit verpflichtet

Das öffentliche Bild, das nach 9/11 von Afghanistan gezeichnet wurde, inspirierte den renommierten Journalisten Emran Feroz dazu, sich tiefgehend und differenziert mit der Heimat seiner Eltern auseinanderzusetzen.

von Jakob Häusle
Wie bei seiner Arbeit hat Emran Feroz auch beim Fototermin in Stuttgart den Weitblick. (c) Florian Scheible

Der 11. September 2001 war eine Zäsur. Davor war es so, dass viele, einschließlich meiner Person, mit Afghanistan nicht viel anfangen konnten. Es war alles so ein bisschen exotisch und mythisch, wie bei Tausendundeine Nacht. Ich war damals neun Jahre alt. In Innsbruck waren wir die einzige afghanische Familie weit und breit. Früher war ich oft mit den Kindern aus der Nachbarschaft im Hof. Mit Österreichern, Serben, Türken oder Kurden. Sobald meine Mama aus dem Fenster geschrien hat, also auf Afghanisch, auf Dari, haben alle anderen gesagt: Was ist das denn für eine Sprache? Wir verstehen gar nichts. Niemand konnte etwas mit mir anfangen. Und dann war auf einmal alles anders.

12. September 2001, ich ging in die Schule, Volksschule Hötting-West. Ich hatte schon ein Bauchgefühl, dass es jetzt darum gehen wird, weil ich am Vortag mit meinen Eltern die Sondersendungen gesehen habe. Da hieß es: Irgendwas mit Afghanistan, irgendwas mit Taliban, irgendwas mit Osama Bin Laden. Und dann, vor versammelter Klasse, fragte mich meine Lehrerin: „Ihr seid ja aus Afghanistan, weißt du vielleicht, warum die das gemacht haben?“ Und ich versuchte sogar, zu antworten. Ich sagte, ja, wir sind aus Afghanistan, aber Osama Bin Laden nicht. Aber sie wollte gar keine Antwort hören, sie hatte eher aus dem Affekt heraus gefragt. Weil sie auf einmal mit mir und meiner Herkunft etwas anfangen konnte, aus ihrer Sicht zumindest.

Dann ging es richtig los. Am Schulhof, auf dem Heimweg, überall. „Ihr habt das gemacht, jetzt werdet ihr bombardiert“, „Hoffentlich trifft euch die Atombombe“, „Osama Bin Laden ist dein Onkel“, lauter solche Sachen. Ab diesem Zeitpunkt begann ich, mich ernsthaft mit Afghanistan auseinanderzusetzen. Meine Eltern haben mir zwar immer Geschichten erzählt, aber ich wusste nicht, wie wahrheitsgetreu die waren. Und auch meine Kollegen, die mich gehänselt haben, bildeten sich ihre Meinung im Alter von elf Jahren auch nicht selbst, sondern übernahmen sie von ihren Eltern. Und die hatten wiederum ihre Meinung aus den Medien und der Politik.

Mein Vater schaute die ganze Zeit Nachrichten und ich deswegen auch. Ich fragte mich oft, wie wahrheitsgetreu die Berichte eigentlich sind. Wird hier wirklich die Realität vor Ort dargestellt? Was bedeutet es, wenn da jemand mit dem Mikrofon in der Hand steht und sagt, er berichtet jetzt live aus Kabul oder aus Bagdad? Was sieht er dort? Und vor allem: Was sieht er nicht?

Emran Feroz, geboren 1991 in Innsbruck, ist ein österreichisch-afghanischer Journalist, der mit seiner Kriegsberichterstattung und seinen Büchern international für Aufsehen sorgt. Sein aktuelles Buch „Vom Westen nichts Neues“ erschien im März beim Verlag C. H. Beck.

Foto: Florian Scheible

Nachdem ich in der siebten Klasse durchgefallen bin, bekam ich andere Lehrer. Meine neue Deutschlehrerin ermutigte mich, etwas aus meinem Talent zu machen. Dann begann ich damit, politische Texte über Afghanistan zu schreiben, aber keine Vor-Ort-Reportagen. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch nie dort. Ich inskribierte mich an der Uni in Tübingen, um dort Islamwissenschaft und Politikwissenschaft zu studieren. Nach meinem dritten Semester haben alle Praktika gemacht. Und ich dachte mir, dass das der perfekte Zeitpunkt sei, um nach Afghanistan zu fliegen. Das war 2014, während der Westen das Ende der Amtszeit von Präsident Hamid Karzai als erste demokratische Machtübernahme in Afghanistan feierte. Ich kontaktierte Verwandte und sagte ihnen, dass ich jetzt für zwei Monate komme und eine Unterkunft brauche. Mein Vater war dagegen, dass ich hinfahre. Er selbst war, seitdem er nach Europa gekommen war, nie mehr dort. Meine Mutter schon, also beschloss sie, mich zu begleiten. Dort angekommen, habe ich sehr schnell gemerkt, wie unterschiedlich die Welten sind. Also wie unterschiedlich sich dort Journalisten im Vergleich zu anderen Leuten bewegen. Wir lebten in Kabul. Im Westen der Stadt, in einer normalen Gegend, die nicht Teil der von US- bzw. NATO-Truppen abgesicherten Green Zone war, wo sich das Diplomatenviertel sowie viele Hotels und Büros befanden.

Kollegen, die meine Arbeit kannten, luden mich zu sich in ihre Büros ein. Ich musste durch mehrere Checkpoints durch, bevor ich zu ihnen konnte. Westliche Journalisten sind in Afghanistan sehr eingeschränkt. Bevor sie die Erlaubnis bekommen, aus Kabul raus und in ländliche Gebiete zu fahren, müssen sie große bürokratische Hürden überwinden, weil jede Außenreportage ein Sicherheitsrisiko darstellt. Das bedeutet aber auch: Wenn es heißt, er oder sie berichtet aus Kabul, dann meistens von einem Dach eines Hotels in der Green Zone. Aber Afghanistan ist ein riesiges, heterogenes Land. Kabul ist da nicht repräsentativ. Wenn man dreißig Minuten lang von Kabul, also von der Green Zone, wegfährt, dann landet man sehr schnell in einem extrem verarmten, vom Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Gebiet, das schon damals die Taliban kontrollierten. Und dann sieht man, wie wenig internationale Hilfe da überall angekommen ist, obwohl Milliarden, hunderte Milliarden ins Land reingepumpt worden sind. Man fährt dreißig Minuten in irgendeine Richtung und sieht das komplette Grauen.

Nach meinem ersten Trip war ich regelmäßig in Afghanistan. Ich fuhr in die verschiedensten Gebiete, um zu recherchieren und Leute zu interviewen. Ich kannte das Risiko, es gab oft brenzlige Situationen, aus denen ich nur knapp rausgekommen bin. Mir war es immer wichtig, ein differenziertes Bild von Afghanistan zu zeichnen. Viele Medien machen das nicht, weil sie es nicht können oder nicht wollen. Mir war es wichtig, dass ich das, was ich anderen vorwerfe, nicht mache. Mir war es wichtig, dass ich das lebe, was ich von anderen verlange. Ich denke, dass ich in den letzten zehn Jahren genug geleistet habe, um mich in diesem Feld zu beweisen.

Ich war dieses Jahr nicht in Afghanistan, weil wir eine Tochter bekommen haben. Ich brauche gerade Abstand und eine Pause von dem Ganzen. Das gleiche Risiko wie früher würde ich heute nicht mehr eingehen. Aber ich bereue nicht, dass ich es damals eingegangen bin. Ich habe für die Sache gebrannt.

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