Der Gärtner im Meer

Seegraswiesen sind nicht nur wichtige Lebensräume, sondern auch CO2-Speicher. Doch ihr Bestand ist bedroht. Manuel Marinelli segelt durchs Mittelmeer und kämpft gegen ihr Verschwinden an.

von Eva Schwienbacher
Meeresbiologe Manuel Marinelli verbringt die Sommermonate auf dem Segelschiff im Mittelmeer und rettet Seegras. (c) Maria Fleck

Seit Manuel Marinelli als Kind bei einem Urlaub auf Sri Lanka mit seinen Eltern zum ersten Mal Korallen gesehen hat, lässt ihn die Unterwasserwelt nicht mehr los. Der studierte Meeresbiologe aus Kärnten war Tauchlehrer und arbeitete 15 Jahre lang für Greenpeace. Seit acht Jahren ist der 41-Jährige mit seinem Segelschiff „Waya Waya“ im Mittelmeer unterwegs, wo er Seegraswiesen vermisst und neu anpflanzt. Mitte Mai loggte er sich bei einem der seltenen Festlandstopps im griechischen Preveza vom Boot aus per Videogespräch ein, um dem 20er von seinem Projekt zu erzählen.

Sie segeln bis Ende September der griechischen Küste entlang. Was sind Ihre Pläne?

Heuer ist eine Umrundung der Peloponnes in Griechenlands Süden geplant. Zum Schluss segeln wir nach Malta und von dort zurück nach Licata in Sizilien, wo wir unseren Winterlagerplatz haben. Dazwischen wechseln wir fast täglich den Standort, um hauptsächlich Seegraswiesen zu vermessen. Außerdem halten Leute an Deck Ausschau nach Tieren wie Delfinen oder Walen.

Viele kennen Seegras als Pflanze, die nach dem Bad im Meer am Körper klebt oder als kleine, braune Filzkugel am Strand vom Wind hin- und hergeblasen wird. Was macht es besonders?

Seegras wird gewaltig unterschätzt. Schwimmer mögen es nicht, weil es am Körper klebt und von oben unheimlich ausschaut. Taucher finden es langweilig, weil sie darin angeblich nichts sehen. Die Segler mögen es nicht, weil der Anker nicht hält, und Fischer ärgern sich, wenn es in den Netzen hängen bleibt. Dabei ist Seegras das Ökosystem, das das ganze Meer am Leben hält. Speziell alte Seegraswiesen können wie Bäume an Land viel CO2 binden und Sauerstoff abgeben, weshalb sie auch als grüne Lunge bezeichnet werden. Außerdem ist Seegras eine unglaublich wichtige Kinderstube. Ungefähr ein Drittel aller Lebewesen im Mittelmeer verbringt zumindest einen Teil seines Lebens im Seegras. Im Umkehrschluss geht mit dem Verlust von Seegras auch ein großer Verlust von Lebewesen einher. Um das zu verhindern, wollen wir ein Netzwerk aufbauen, um gemeinsam neue Seegraswiesen anzupflanzen. Allerdings können junge Seegraswiesen als CO2-Senken nicht mit den alten mithalten.

Wie alt sind die ältesten Seegraswiesen im Mittelmeer?

Mehrere hundert bis tausend Jahre alt. Eine einzelne Pflanze besteht, vereinfacht gesagt, aus den grünen Blättern, die aus einem fest im Meeresboden verwurzelten, braunen Büschel wachsen. Die Blätter wachsen mit ein bis zwei Zentimetern pro Woche relativ schnell. Das horizontal wachsende Rhizom allerdings nur ein bis zwei Zentimeter pro Jahr. Mit etwas Glück finden wir hier Wiesen, die einen Durchmesser von einigen hundert Metern haben. Viele davon sind aus einer einzelnen Pflanze entstanden, als die Welt noch im tiefsten Mittelalter steckte. Wenn wir nun unser Boot in einer 60 bis 70 Zentimeter breite Seegraswiese ankern und sie dabei beschädigen würden, dann würde es ungefähr 30 Jahre dauern, bis sie wieder nachgewachsen ist.

Sie messen den Bestand der Seegraswiesen auch aus der Luft.

Wir haben in der Vergangenheit auch mit Drohnen gearbeitet. So nahmen wir vor Kreta mit einer einfachen Drohne tausende Fotos von einer einzigen Bucht auf. Mithilfe spezieller Software erstellten wir daraus ein Gesamtbild, das sich als Overlay in Google Earth anzeigen ließ. Auf dieser Grundlage kann man relativ genau digitale Umrisse, sogenannte Polygone, über die Seegraswiesen legen und deren Flächen berechnen. Prinzipiell funktioniert das gut, aber man braucht sehr gute Bedingungen, die wir sehr selten haben. Deshalb arbeiten wir vorwiegend unter Wasser: Wir schnorcheln mit einem Maßband, das wir an fixen Punkten an der Wasserlinie, also dort, wo das Meer beginnt, befestigen. Von dort aus messen wir 50 Meter ins Meer hinein. Sobald sich der Untergrund verändert, tauchen wir kurz ab, bestimmen die Tiefe und notieren, ob es dort Sand, Fels, Geröll oder Seegras gibt – und falls ja, um welche Seegrasart es sich handelt. Außerdem schätzen wir, wie dicht der Bewuchs ist. Diese Messungen wiederholen wir alle zwei bis drei Jahre an denselben Stellen, um zu sehen, wie sich die Seegraswiesen verändern.

Wie haben sich die Seegraswiesen seit Projektbeginn verändert?

Ums Seegras steht es nicht gut. Wir sind bei ungefähr 20 Prozent Verlust pro Jahr. Deshalb haben wir mit dem Anpflanzen begonnen. Mancherorts wachsen Seegraswiesen aber noch, beispielsweise vor der Hafenstadt Portoferraio auf der Insel Elba. Warum, ist mir allerdings ein Rätsel. Auch in der Ägäis in Griechenland schauen die Seegraswiesen besser aus. Das erkläre ich mir dadurch, dass dort selbst im heißesten Sommer immer Nordwind weht, weshalb das Wasser nicht so stark erwärmt. Denn einer der großen Faktoren, warum Seegras abstirbt, ist die starke Wassererwärmung.

Was gefährdet Seegras noch?

Neben der Temperatur sind die Nährstoffeinträge vom Land entscheidend. So wie es in der Nordadria, wo der Po in die Adria mündet, passiert. Die Nährstoffe, die da reinfließen, sind für das Pflanzenwachstum im ersten Moment gut. Aber nach einigen Jahren permanenter Überdüngung ist es zu viel. Hinzu kommen diverse andere kleinere Faktoren, wie Schäden durch Anker und Schleppnetze.

Seegraswiesen sind wichtig für die Artenvielfalt und das Klima. (c) Marc Bielefeld
Bei so einem hohen Verlust klingt das Nachpflanzen wie der Tropfen auf den heißen Stein.

Bis zu einem gewissen Grad, ja. Aber mir geht es darum, zu zeigen, dass das Anpflanzen funktioniert. Wir haben in den letzten Wochen ungefähr 500 Stück Samen gesammelt. Diese verteilen wir jetzt über die Sommermonate an verschiedene Tauchschulen und pflanzen sie gemeinsam ein. Und hier kommt der zweite wichtige Punkt ins Spiel: Wir arbeiten mit lokalen Partnern zusammen, die ihre Gewässer kennen. Sie wissen, wo Seegraswiesen sind oder in der Vergangenheit waren. Sie wissen vor allem auch, welche Plätze gut geschützt sind. Diese Zusammenarbeit ist entscheidend. Denn bei einer kleinen Pflanze kann eine große Welle viel Schaden anrichten und verhindern, dass sie überhaupt anwächst. Unsere Rolle ist, das Know-how unter die Leute zu bringen. Wir haben jetzt ein Netzwerk aus rund 30 Tauchschulen. So wird aus dem kleinen Tropfen auf dem heißen Stein zwar noch kein Meer, aber zumindest ein Rinnsal.

Wie pflanzt man eigentlich Seegras?

Das ist weniger kompliziert, als man denkt. Die Samen des Seegrases ähneln Oliven: Sie treiben an der Oberfläche, sinken dann zu Boden, und nur der eigentliche Samen bleibt übrig. Verschiedene Methoden wurden ausprobiert, etwa das Einpflanzen im Sand, was nur eine geringe Überlebensrate brachte. Deutlich besser funktioniert es, die Samen an Felsen zu fixieren, da sich die jungen Pflanzen mit ihren klebrigen Wurzeln gut festhalten können. Ideale Bedingungen herrschen dort, wo früher bereits Seegras wuchs: Wenn das alte Rhizom noch vorhanden ist, lassen sich neue Samen mit bis zu 90 Prozent Erfolgsrate wieder einsetzen.

Vergangenen Sommer erreichten uns besorgniserregende Bilder vom Mittelmeer, etwa von Algenschleim in der Adria oder Blaukrabben in Spanien. Wie steht es ums Mittelmeer?

Dem Mittelmeer geht es nicht gut. Die Region leidet unter der Ausbreitung invasiver Arten wie der Blaukrabbe, des Rotfeuerfischs oder Kugelfischs, die aus dem Roten Meer bzw. dem Atlantik stammen. Die Goldstriemen, die einst in großen Schwärmen das Mittelmeer prägten, werden vor allem vom Kaninchenfisch aus dem Pazifik verdrängt. In Griechenland sind sie fast verschwunden. Diese Veränderungen geschehen in einer Geschwindigkeit, die ich so nicht kenne. Besonders problematisch sind auch die Algenblüten, die durch die Erwärmung des Wassers und den hohen Nährstoffgehalt in der Adria begünstigt werden. Zwar sind Algen an sich nicht das Hauptproblem, aber wenn sie absterben und sich zersetzen, verbrauchen sie Sauerstoff. Dies führt zu Sauerstoffarmut im Wasser, die für Fische und andere Meerestiere gefährlich werden kann. In den letzten Jahren war die Sauerstoffarmut in der Adria so gravierend, dass Fische nicht mehr schnell genug wegschwimmen konnten und gestorben sind. Das Mittelmeer ist ein nahezu abgeschlossener Lebensraum, ohne große Strömungen, wodurch sich diese negativen Effekte länger halten. Es besteht also dringender Handlungsbedarf.

Welche Maßnahmen braucht es?

Vor allem im Bereich Abwasserentsorgung und Landwirtschaft, um den Nährstoffeintrag ins Wasser zu reduzieren, braucht es Maßnahmen. Denn alles, was in einen Fluss gelangt – auch bei Ihnen in Innsbruck –, landet über kurz oder lang im Meer. Trotz bestehender gesetzlicher Regelungen zu Kanalisation und Fischerei in vielen Ländern gibt es immer wieder Probleme mit der Umsetzung. Es gibt zwar viele Verbote, doch in der Praxis wird kaum kontrolliert. Italien ist hier recht gut aufgestellt mit Behörden wie der Guardia di Finanza, die streng auf die Einhaltung der Vorschriften achten. Doch selbst in Italien ist es so, dass wir, wenn wir Glück haben, bloß ein oder zwei Patrouillenboote pro Woche sehen.

Wie sehr beunruhigt es Sie, dass Umwelt- und Klimaschutz ihre Priorität in der Politik verlieren?

Egal, ob es um Seegras oder sonst etwas geht, der Klimawandel ist der Endgegner für die Meeresökosysteme. Wir können hier Seegras anpflanzen, wie viel wir wollen, es wird nur überleben, wenn das Wasser nicht weiter erwärmt. Die Wassertemperaturen im Mittelmeer sind besorgniserregend hoch: Vor 20 Jahren, als ich in Kroatien zu arbeiten begann, lag die Wassertemperatur im Hochsommer bei maximal 27 Grad. Und nun in Griechenland ist das Wasser heute, am 12. Mai, bereits 24,6 Grad warm. Das Wasser kühlt nicht mehr genug ab und die saisonalen Zyklen der Meeresorganismen werden durcheinandergebracht. Diese Erwärmung schafft Probleme, vor allem für Organismen wie Seegras, die auf kältere Phasen angewiesen sind, um Samen zu produzieren. Tropische Arten profitieren von der Erwärmung, was für typische Mittelmeertiere und -pflanzen problematisch ist. Historisch hatten wir im Mittelmeer keine Korallen, weil das Wasser zu kalt war. Nun haben wir innerhalb von nur zehn Jahren den Sprung von zu kalt auf zu heiß geschafft. Das ist gewaltig und das hat es meines Wissens so noch nicht gegeben.

Ist das nicht frustrierend?

Es ist frustrierend, spannend, erschreckend. Als Biologe lernt man, wie sich Ökosysteme verschieben und sich alles über Jahrhunderte anpasst. Plötzlich kann man zuschauen, wie das innerhalb von zehn Jahren live passiert. Das ist hauptsächlich besorgniserregend. Wenn es so weitergeht, gebe ich dem Mittelmeer noch fünf bis zehn Jahre. Dann brennt der Hut. Und jene Länder, die heute nicht dem Klima, sondern dem Tourismus Priorität geben, sind dann nicht mehr sehenswert. Jedes Ökosystem ist wie ein Jengaturm und wir hauen hier methodisch einen Block nach dem anderen raus. Irgendwann wird das Ding kippen.

Wie sähe ein Best-Case-Szenario aus?

Es braucht klare Regelungen für die Landwirtschaft, Fischerei und private Bootsfahrt. Korsika hat beispielsweise ein Ankerverbot für bestimmte Boote vor der Küste eingeführt, um Seegraswiesen zu schützen. Bei Missachtung drohen hohe Geldstrafen. Leider führt der Weg immer durch die Geldbörse.

Was können Urlauber beitragen?

Es gibt rund ums Mittelmeer tolle Initiativen, zum Beispiel Clean-up-Days. Auch bei Bootsausfahrten mit Meeresbiologen kann man lokale Projekte unterstützen und dabei Neues lernen. Prinzipiell ist der Umgang mit Süßwasser sehr wichtig: Denn ein großes Problem vieler Mittelmeerländer ist der Rückgang des Frischwasserpegels im Landesinneren. Wassersparen kann jeder. Jede kleine Entscheidung macht einen Unterschied. Das sollten wir immer im Hinterkopf behalten.

Woran sollte man denken, wenn beim nächsten Bad im Meer Seegras an den Füßen klebt?

Man kann sich darüber freuen, dass es Seegras überhaupt noch gibt.

Vielen Dank für das Gespräch.
Warum ist das gut fürs Klima?

Seegras ist dafür bekannt, effizient CO2 zu binden, das aus der Atmosphäre ins Meerwasser gelangt. Schätzungen von Fachleuten zufolge ist allerdings bereits ein Drittel des globalen Bestands von Seegraswiesen weltweit verschwunden. Das Anpflanzen von Seegras kann diesem Verlust entgegenwirken.

Diese Serie wird durch
die Unterstützung des
VVT ermöglicht.


Jeder und jede kann gegen die globale Erwärmung viel tun, doch auch neue Technologien haben großen Einfluss. Für Laien sind diese oft schwer zu verstehen. Darum erklären uns in der Interview-Serie ‚Über Morgen‘ die schlausten Köpfe der Welt ihre Erfindungen gegen die Klimakrise. Ob wir diese nun gut finden – oder auch nicht.

Abonnieren

Ein Abo der Tiroler Straßenzeitung ist immer eine gute Idee! Um nur 64 Euro erhalten Sie zehn Ausgaben bequem zu Ihnen nach Hause geschickt. Wir liefern den 20er monatlich dorthin, wo unsere Verkaufenden nicht sind. Ob nach Prutz oder Wien.

Spenden

Von einer Mahlzeit für die Verkäuferinnen und Verkäufer bis zu den Druckkosten einer gesamten Ausgabe, Sie entscheiden wie Sie uns unterstützen können und wollen. Egal wie viel, wir freuen uns immer über Ihre Spenden.