Bittersüßes Lesevergnügen

Nicht oft liest Doris Eibl ein Buch von vorne bis hinten in einem durch. Beim diesjährigen Innsbruck-liest-Buch „Zitronen“ von Valerie Fritsch konnte sich die Juryvorsitzende nicht von der Lektüre lösen. Mit dem 20er spricht sie über die Gründe für diese Wahl, das Wesen der Literatur und was für sie ein gutes Buch ausmacht.

von Jakob Häusle
Die Literaturexpertin Doris Eibl ist Jury-Vorsitzende der heurigen Ausgabe von Innsbruck liest. (c) Nicolàs Hafele
Frau Eibl, was ist für Sie Literatur?

Doris Eibl: Das ist eine Frage, mit der man sich ein ganzes Leben lang beschäftigen kann. Literatur ist für mich eine nicht enden wollende Entdeckung. Ich kann mich ganz genau erinnern, als ich in der Volksschule mein erstes Buch gelesen habe. Also ein echtes Buch mit Text und ohne Bilder. Da muss ich wohl acht oder neun gewesen sein – das war für mich eine Art Erweckungserlebnis.

Inwiefern?

Also die Tatsache, dass ich mir über einen Text quasi eine Welt in mein Leben holen kann, die mit meiner eigenen Welt nichts zu tun hat, und dass diese im Kunstwerk Sprache ganz plastisch wird und Emotionen in mir auslöst, und dass ich da etwas lerne über andere Kontexte, andere Familien, andere Menschen, dass ich in sie gewissermaßen reinschauen kann. Diese Faszination ist mir immer geblieben. Literatur ist ein unendlicher Schatz, und je mehr man sich mit über Jahrhunderte entstandenen Texten auseinandersetzt, umso mehr versteht man auch, was sich verändert und welche Fragen immer gleichbleiben.

Welche Fragen sind denn immer gleich geblieben?

Ich glaube, es sind die Dinge, die mit den zentralen Emotionen der Menschen zu tun haben, die ähnlich bleiben. Wie Menschen mit den großen Fragen des Lebens umgehen, also mit Geburt und Tod, mit Liebe und Verlust, mit Enttäuschung, mit Freude und Neid, mit Kränkungen etc. All diese großen Fragen, die wir schon aus dem Alten Testament kennen. Diese Grundfragen des Menschseins werden natürlich immer wieder anders verhandelt, aber sie tauchen ständig in ähnlicher Form auf. Und manchmal hat man das Gefühl, die Menschen arbeiten sich an ihnen ab ohne dauerhaft auf einen grünen Zweig zu kommen.

„Literatur ist für mich eine nicht enden wollende Entdeckung.“

Doris Eibl

Was ist für Sie prinzipiell ein gutes Buch?

Das ist natürlich sehr subjektiv und hat auch immer mit dem zu tun, was ich gerade suche oder was mich aktuell interessiert. Aber vielleicht geht ein gutes Buch für mich über die reine Deskription der Realität hinaus und kondensiert bestimmte Verhaltensweisen oder bestimmte Emotionen als Fallbeispiele. Ein gutes Buch überrascht mich inhaltlich, aber auch auf der sprachlichen Ebene oder nimmt mich mit in eine Sphäre der Sprache bzw. in eine Dimension der Sprache, die ich im Alltag so nicht erlebe. Bei einem guten Buch höre ich nicht gleich wieder auf zu lesen und wende mich einer anderen Sache zu. Es nimmt mich irgendwie gefangen und ich möchte eigentlich immer weiterlesen, mehr erfahren.

Das ist einer der wenigen Kontexte, in dem man das Gefangensein positiv konnotiert.

Ja, man kommt nicht raus und man will auch gar nicht raus. Man will drinnen bleiben und ist leicht genervt, wenn man gestört oder wenn man zum Essen gerufen wird. Aber es ist gar nicht so einfach zu beantworten, was ein gutes Buch ist. Ich glaube, wenn diese Frage einfach zu beantworten wäre, würden sich ja auch alle Autor:innen an vorgegebene oder erprobte Rezepte halten. Und dann wäre alles sehr, sehr eintönig.

Und was ist ein gutes Innsbruck-liest-Buch? Oder ist das die gleiche Frage?

Nein, das ist eine andere Frage. Weil Innsbruck liest natürlich den Anspruch hat, möglichst viele Menschen mit einem Buch zu erreichen. Und wenn ich sage möglichst viele Menschen, meine ich damit unterschiedliche Generationen von Leser:innen, unterschiedliche soziale Schichten und Interessensgruppen, verschiedene Leser:innenschichten. Es geht darum, mit einem Buch eine ganze Stadt zu beschenken, und eine Stadt ist immer extrem divers. Es soll sowohl Menschen ansprechen, die vielleicht nur einmal im Jahr lesen, aber auch solche, die regelmäßig lesen. Es geht darum, sie für ein Thema zu interessieren, mit dem sie sich normalerweise nicht auseinandersetzen. Es muss ein Buch sein, das für viele lesbar ist. Und es ist nicht ganz einfach, so ein Buch zu finden. Das Lesen von Literatur gehört für viele nicht zum Alltag, und Lesen will gelernt sein. Ich weiß, dass ist ein ungewöhnlicher Vergleich, aber Lesen ist wie Tennisspielen: Man muss trainieren, sich manchmal auch etwas abmühen, bis man Spaß hat. Kurz gesagt, man muss üben, regelmäßig lesen, um das Lesen auch als selbstverständliche Tätigkeit zu betreiben. Wenn ich nie ein Buch lese, bedeuten zehn dicht geschriebene Seiten eine ungewöhnliche Anstrengung. Wenn man regelmäßig liest, entwickelt man die Fähigkeit, mit literarischen Sprachbildern entspannt umzugehen oder sich Dinge zu merken oder komplexe Handlungen zu überblicken. Man lernt auch mit Zweideutigkeiten zu leben.

Zitronen
Valerie Fritsch, Suhrkamp 2024

10.000 Stück von „Zitronen“ werden im Rahmen der Leseaktion Innsbruck liest tirolweit kostenlos verteilt,
600 davon von den 20er-Verkaufenden.

Gibt es irgendetwas, was Sie an der Literatur nicht mögen?

Ich mag es nicht, wenn ich auf den ersten Seiten schon erahne, wie eine Geschichte enden wird. Es werden sehr viele Bücher nach einem ganz bestimmten Schema produziert. Das mag natürlich auch einen Entspannungseffekt haben, wenn ich mich von bereits Bekanntem tragen lassen kann. Dafür, wie ein Abenteuerroman am besten funktioniert, wie Spannung erzeugt werden kann, gibt es ausreichend historische Vorlagen und Anweisungen. Das heißt natürlich nicht, dass die Imitation von Vorbildern und das Befolgen von Anweisungen auch immer funktionieren. Aber wie schon gesagt, ich mag es gerne, wenn mich ein Text überrascht, wenn ich mehr in ihm finde, als das von mir Erwartete oder das mir Bekannte. Dann bin ich richtig aufgeregt.

Was hat Sie an „Zitronen“ von Valerie Fritsch überrascht?

Überrascht hat mich an „Zitronen“ weniger die Geschichte, die natürlich auch extrem interessant ist, als vielmehr die Sprache, die übrigens nicht von allen Kritikern positiv beurteilt wurde. Der Autorin wurde mitunter auch vorgeworfen, sie würde in der Bilderflut ihre Geschichte fast ertränken. Ich selbst war überwältigt vom Bilderreichtum ihrer Sprache, vom Sog, den ihre Sprachwucht erzeugt. Dass eine zeitgenössische Autorin sich noch Zeit nimmt, Bilder so ausführlich und so überraschend zu entwickeln und eine Bildsprache entstehen zu lassen, die sich nicht überlesen lässt, mit der man sich konfrontieren muss. Diese Bildsprache gibt der Geschichte, also der Intrige, dem Plot, noch eine weitere Dimension. Zum Teil hatte ich das Gefühl, ich rieche mit der Sprache, ich ertaste, ich höre, was beschrieben wird: ein Dorf, seine Menschen, die Natur, das Haus, seine Einrichtung etc. Die Bilder, die Valerie Fritsch entwickelt hat, haben mich verzaubert, fast trunken gemacht. Es ist insbesondere die Sprache, die diesen Roman vor allen anderen Büchern, die wir gelesen haben und die zur Debatte standen, ausgezeichnet hat.

Valerie Fritsch

Valerie Fritsch (*1989) arbeitet als freie Autorin und wurde beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 mit dem Kelag-Preis und dem Publikumspreis ausgezeichnet. 2020 erhielt sie den Brüder-Grimm-Preis für Literatur. Ihr 2024 erschienenes Buch „Zitronen“ wurde als diesjähriges Innsbruck-liest-Buch ausgewählt. Sie lebt in Graz und Wien.

Foto: oxyblau

Worum geht es in „Zitronen“?

Es geht um Fürsorge, um Care und um eine mögliche negative, ja pathologische Entwicklung des an und für sich positiven Impulses, sich um jemanden zu kümmern. Es geht darum, wie sich die Mutter Lilly Drach verhält, die sich so sehr um ihren Sohn August kümmert, ja aus diesem Kümmern ihr Lebenselexier, ihre Seinsberechtigung bezieht, dass dieser verkümmert. Es geht darum, wie sich jemand verhält, der nicht loslassen kann. Der sich eigentlich über dieses Pflegen, über das Schützen, über das für jemanden Agieren definiert und dabei den zu Versorgenden zum Objekt, zum Spielball des eigenen Tuns macht.

August ist die Hauptperson in „Zitronen“. Beide Elternteile projizieren ihr Leben auf ihn, definieren sich durch ihn. Der Vater schlägt ihn, die Mutter vergiftet ihn, um ihn krank zu halten, damit sie sich um ihn kümmern kann. Wie lässt sich das einordnen?

Wenn ich mein eigenes Selbstwertgefühl bzw. meine eigene Existenzberechtigung oder mein Dasein darüber definiere, dass ich jemand anderen, dem es schlecht geht, rette, dass ich quasi dessen Opferstatus oder dessen Krankheit brauche, um mich selbst definieren zu können, wirft das eine für uns Menschen brisante Frage auf: Ab wann wird ein Fürsorgeverhältnis übergriffig? Das sind wirklich schwierige Themen, wenn man sie aus dem Kontext des Buches herausnimmt.

Welche Stelle im Buch ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Ich denke gerne an die Urlaubsszene zurück. Nachdem der Vater die Familie verlässt und die Mutter sich mit dem Dorfarzt anfreundet und sie dann gemeinsam mit August in das Feriendomizil des Dorfarztes reisen. Eine großartige und eindrückliche Episode des Romans, in der die Mutter aus der Rolle fällt, als sie die Medikamente, mit denen sie ihren Sohn sozusagen krank hält, an der Raststation liegen lässt. Das Vergiftungsritual wird so unterbrochen. Die Mutter hat große Probleme, in einer Situation, in der sie nicht mehr in der üblichen Rolle agiert, zurechtzukommen. Der Sohn hingegen wird gesund. Er erlebt seinen gesundenden Körper, merkt, wie es ihm stetig besser geht. Der „begleitende“ Arzt führt die Genesung auf die Sommerfrische zurück. Er verkörpert als Romanfigur übrigens eine exquisite Sinnlichkeit. Es wird gekocht, gegessen, es duften die Zitronen.

„Ich hatte das Gefühl, ich rieche mit der Sprache, ich ertaste, ich höre, was beschrieben wird.“

Doris Eibl

Auch der Teil mit Ava, der Frau, mit der August als Erwachsener zusammenkommt, nachdem er vom Dorf und der Mutter weggekommen ist, ist hochspannend.

Ja, mit ihr läuft etwas aus dem Ruder, was eigentlich zunächst gut beginnt. Es stellt sich natürlich die Frage, ob man die Vorkommnisse in dieser Beziehung allein auf die „vergiftete“ Kindheit des August Drach zurückführen kann. Das wird im Roman in jedem Fall suggeriert.

Georg Büchner hat schon gesagt: „Man kann nicht aus seinen Umrissen“. Wie sehen Sie das?

Der Psychiater Erwin Ringel hat gesagt, und jetzt paraphrasiere ich, die Kindheit sei wie ein Topf, der einem übergestülpt wird und dessen Inhalt ein ganzes Leben lang an einem herunterrinnt. Ja, kann man oder kann man nicht aus seinen „Umrissen“? Ich bin nicht wirklich befähigt, das zu beurteilen. Es scheint mir aber, dass manche Menschen resilienter sind als andere und deshalb auch mit den Verletzungen der Vergangenheit besser umgehen können.

Was kann man aus dem Buch für sein eigenes Leben mitnehmen?

Muss man aus einer Lektüre immer etwas für das eigene Leben mitnehmen? Man kann, muss aber nicht. Man kann sich ansehen, wie eine Situation sich zuspitzen und eine absurde Wendung nehmen kann. Oder man kann beobachten und feststellen, ab wann jemand mehr begleitet hätte werden können, wo jemand eine Reflexionsebene von außen oder ein Gegenüber gebraucht hätte, mit dem er Traumatisches aufarbeiten hätte können. Dieses Gegenüber steht der Figur des August nicht zur Verfügung

Hat Sie das Ende überrascht? Wir werden es natürlich nicht vorwegnehmen.

Das weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Das Ende des Romans führt diese sehr außergewöhnliche oder exzeptionelle Existenz in ihrer ganzen Tragik wieder in eine lebbare Banalität zurück, indem August in sein Dorf zurückkehrt. Diese Rückkehr ist wie eine Entdramatisierung der psychisch prekären Situation, seiner Eifersucht, seiner Gewalttätigkeit. Was er nach der Rückkehr tut, wissen wir nicht. Möglicherweise führt der Weg über die angesprochene Banalität in eine neue Zuspitzung. Wir dürfen als Lesende den Roman weiterschreiben …

Dieses Jahr war Ihr letztes Mal als Juryvorsitzende von Innsbruck liest, was bedeutet Ihnen diese bereits seit 21 Jahren bestehende Aktion?

Ich finde, dass Innsbruck liest ein wirklich außergewöhnliches und kostbares Projekt ist. Ich finde es großartig, dass die Stadt sich ein solches Projekt leistet. Innsbruck liest wird zudem auch sehr gut angenommen. Die Leute lesen, sie kommen zu den Veranstaltungen. Letztes Jahr bekam ich viele positive Rückmeldungen von sehr unterschiedlichen Leserinnen und Lesern. Ich war sehr gerührt, dass sie sich die Mühe gemacht haben, mir zu schreiben. Für mich ist es einfach eine Freude, dazu beitragen zu können, dass anderen Menschen so etwas wie ein Leseerlebnis zuteil wird. Dass eine Stadt sich über mehr als 20 Jahre hinstellt und sagt, das ist uns wichtig, ist eine Freude. Lesen von Literatur bedeutet eben eine andere Art der Auseinandersetzung als Filme oder Serien anschauen – das tue ich selbstverständlich auch – oder Computerspiele zu spielen. Sie alle haben natürlich ihre ästhetische Berechtigung und sprechen uns auf unterschiedliche Art und Weise an. Einen literarischen Text zu lesen, bedeutet aber eine ganz besondere Auseinandersetzung mit dem Menschsein, der menschlichen Existenz, der Sozialität, der Welt. Lesen von Literatur ist immerhin eine erprobte Kulturtechnik. Ich hoffe, dass Innsbruck liest noch lange die Unterstützung der Politik erfährt, denn es zeichnet eine Stadt aus, dass sie Projekte wie dieses unterstützt.

Vielen Dank für das Gespräch.
So wird das Innsbruck- liest-Buch gewählt

Formale Kriterien: Das Buch darf maximal 300 Seiten haben, soll auf Deutsch verfasst und von einer Autorin oder einem Autor stammen, der oder die noch nicht sehr bekannt ist.
Thematische Auswahl: Bevorzugt werden aktuelle, gesellschaftlich relevante Themen – zum Beispiel Flucht, soziale Ungleichheit, Care-Arbeit oder prekäre Lebensverhältnisse.
Jurystruktur: Eine wissenschaftliche Leitung (für 3 Jahre bestimmt) koordiniert das Verfahren. Jährlich wird eine dreiköpfige Jury berufen, darunter meist:

eine Person aus dem Bibliothekswesen
eine Person aus Literaturkritik oder Journalismus
eine Autorin bzw. ein Autor oder jemand aus dem Literaturbetrieb

Zusammensetzung der Jury: Mindestens eine Person bleibt fürs Folgejahr erhalten, um Kontinuität zu wahren. Die Jury wird bewusst divers besetzt (Herkunft, Geschlecht, beruflicher Hintergrund), meist außerhalb von Innsbruck, um Unvoreingenommenheit zu sichern.

2025: Jury-Mitglieder waren Irene Diwiak (Autorin), Markus Feigl (Bibliothekar) und Joachim Leitner (Journalist, TT). Die Auswahl lebt von den unterschiedlichen Leseperspektiven zwischen akademischer und praxisnaher Lesart.

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