„Alle sollten Quantenkapazitäten nutzen können“

Der Rechtswissenschaftler Matthias C. Kettemann hat eine Ethik-Denkwerkstatt zur Quantenforschung ins Leben gerufen. Er fordert faire Verteilung von technologischen Innovationen und ethische Forschungsstandards. Ein Gespräch über die Fehler der Vergangenheit und das Potenzial der Quanten in Zukunft.

von Lisa Prantl
Matthias C. Kettemann ist Professor für Innovationsrecht und Digitalexperte an der Universität Innsbruck (c) Uni Innsbruck
Im November haben Sie die Denkwerkstatt zum Thema Ethik in der Quantentechnologie an der Universität Innsbruck eingerichtet. Wie ist sie entstanden?

Angefangen hat das vor etwa 15 Jahren mit sozialen Netzwerken und Künstlicher Intelligenz. Da ging es immer um die Frage: Wie regulieren wir, ohne Innovationen zu hemmen? Technologie ist nicht per se gendersensibel, nicht per se entwicklungsorientiert, sie überbrückt keine digitalen Gräben – das muss der Mensch tun. Digitale Plattformen wurden in den letzten Jahren kaum reguliert: Sie verfolgten ihre ökonomischen Ziele mit negativen Konsequenzen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Körperbild junger Menschen. Sie verteilten Desinformation. Warum im Bereich der Quanten warten und nicht aktiv werden, bevor es die ersten richtigen Anwendungsfälle der Technologie gibt? So wurde das Innsbrucker „Quantum Ethics Lab“ gegründet. Wir wollen Gleichheit herstellen, eine faire Verteilung der quantentechnologischen Chancen ermöglichen. Wir wollen, dass die Entwicklungsgewinne global verteilt sind, aber auch, dass sich innerhalb von entwickelten Gemeinschaften nicht weiter Gräben auftun. Deshalb beraten wir zum Beispiel das Außenministerium, das Bundeskanzleramt und die UNESCO im Bereich Quantenethik.

Bis Quantentechnologie unseren Alltag beeinflussen könnte, wird es aber wohl noch einige Jahre dauern?

Natürlich schauen wir in gewisser Weise in die Zukunft, aber einige Anwendungen sind schon bekannt. Ein klassisches Beispiel sind Verschlüsselungen. Wir wissen jetzt schon, dass kriminelle Gruppen weltweit Schwachstellen horten und nur darauf warten, sie mittels Quantencomputern zu entschlüsseln. Was bei einem normalen Rechner fünf, sechs Jahre dauern würde, könnte mit einem Quantencomputer in fünf Sekunden gelingen.

Welche ethischen Fragen ergeben sich daraus?

Man muss sich überlegen: Wer hat aktuell Zugriff auf solche Rechner? Die Quantenforschung findet in westlichen Ländern statt. Im Globalen Süden gibt es keinen einzigen Quantenrechner. Wenn wir uns nicht jetzt schon überlegen, wie wir diese Ungleichheit korrigieren, wird es in fünf bis zehn Jahren zu enormen Gefährdungen der Cybersicherheit in Ländern des Globalen Südens kommen. Die Staaten der Welt könnten sich bei den aktuell laufenden UNO-Verhandlungen zur Neugestaltung der Zukunft („2024 Summit for the Future“) auf global geteilte Quantentechnologien einigen. Genauso wie die Tiefsee und der Weltraum globale Ressourcen sind, sollten auch Quantenkapazitäten alle benutzen können.

Findet aber nicht gerade ein enormer Wettbewerb um Quantencomputing statt?

Deswegen müssen wir clever regulieren. Das ist oft das Problem: Wenn man zu früh zu stark eingreift, dann tötet man die Innovation. Wenn man zu spät oder gar nicht reguliert, dann ziehen private Unternehmen Gewinne daraus und lassen Gesellschaften auf den Folgen sitzen. Soziale Netzwerke hätten schon in den Zweitausendern beschränkt werden müssen, aber damals dachte man: Oh der Arabische Frühling – die Plattformen werden Demokratie schaffen! Heute wissen wir, dass wir viel mehr Transparenz und Rechtsstaatlichkeit einfordern hätten müssen. All das, was jetzt im neuen Rechtsakt über digitale Dienste kommt.

Was besagt dieser Rechtsakt genau?

Der „DSA“ (Digital Services Act) wird den EU-Staaten neue Möglichkeiten geben, Plattformen Regeln vorzuschreiben. Sie müssen darüber berichten, welche Algorithmen sie verwenden, um Inhalte zu empfehlen, wie sie mit Desinformationen umgehen, wie sie gesundheitsgefährdende Informationen behandeln. Und sie müssen den Menschen ermöglichen, die Löschung von Inhalten zu beeinspruchen.

Sind Sie optimistisch, dass Regeln für Quantenanwendungen früher durchgesetzt werden? 

Ich bin optimistisch, weil wir in Europa und auch Österreich technologisch sehr weit vorne sind. Hier können wir im Rahmen der Regelsetzung etwas bewirken.

Was sind die wichtigsten Forschungsthemen?

Ein großes Thema ist zum Beispiel Quantenoptik. Da geht es um diese schöne Eigenschaft der Quanten, die Einstein als „spukhafte Fernwirkung“ bezeichnet hat. Informationen können friktions- und verlustfrei über lange Distanzen übertragen werden. Das wird verwendet, um erste Beam-Versuche durchzuführen. Allerdings darf man sich das nicht genauso vorstellen wie bei Star Trek.

Als möglicher Einsatzbereich wird auch die Medikamentenentwicklung gehandelt. Wo liegen die Herausforderungen?

Hochpersonalisierte Medizin ist ein gutes Stichwort. Mit Quanten kann man viel schneller komplexe Modellierungen durchführen und etwa im Bereich der Krebstherapie individuell auf die Ausprägung der Erkrankung eingehen. Sehr spannend für Medizinerinnen, die sich mit neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson beschäftigen, ist auch die Nutzung von Quantenrechnern, um die Faltung von Proteinen zu modellieren. Man kann sich jetzt schon ausmalen, wo diese Technologien am Anfang angeboten werden und wer sie bezahlen wird. Auch hier muss man sicherstellen, dass wir eine fairere Verteilung der Ressourcen hinkriegen.

Jetzt haben wir viel über die Gefahren einer noch ungerechteren Welt gesprochen. Sehen Sie weitere Risiken?

Theoretisch kann man jede Technologie so denken, dass sie irgendwann eine Gefahr darstellt. Was ist, wenn die KI sich verselbstständigt, wenn sie dann auf Quantenrechnern läuft und die Menschheit vielleicht irgendwann als Hindernis sieht? Das halte ich für unwahrscheinlich. Oft wird über große Gefahren gesprochen, um über kleinere hinwegzutäuschen. Warum ist die KI – unscharf gesprochen – frauenfeindlich? Die Antwort liegt in den Datenbeständen der Vergangenheit, auf ihnen ist sie trainiert. Wenn man der KI nicht beibringt, was falsch ist, werden die Vorurteile der Vergangenheit in die heutige Zeit übertragen.

Macht Ihnen die Rolle von individuellen Akteuren in diesem Prozess Sorgen?

Generell sollten wir mehr darüber sprechen, wer die Menschen sind, die Technologien entwickeln und einsetzen. Wir neigen dazu, Ergebnisse als Wahrheit darzustellen und alle menschlichen Faktoren im Prozess darin verblassen zu lassen. Das gilt für große Sprachmodelle wie ChatGPT genauso wie für die Quantentechnologie. Wenn wir nicht sicherstellen, dass die Menschen hinter der Technologie ethisch handeln und sich den Menschenrechten verpflichtet fühlen, dann kann das dramatische Folgen haben. Wissenschaftlerinnen sollten sich nicht nur fragen „Kann ich es tun?“, sondern auch „Soll ich es tun?“ und „Generiere ich damit einen sozialen Mehrwert?“

Ein gesetzlicher Rahmen müsste dann irgendwann erst kommen?

Ein globaler Vertrag ist im Moment nicht realistisch und auch nicht unbedingt notwendig. Für das Internet gibt es auch keine internationalen gesetzlichen Regeln, obwohl es 70 Jahre alt ist. Warum funktioniert es trotzdem? Na ja, weil alle irgendwie mitmachen und ein Interesse an der Stabilität des Netzes haben. Für die Quantenwelt gilt aber, dass es sowohl technische als auch ethische Standards jetzt schon braucht. Da reicht es erstmal, dass einzelne Organisationen – Vertreterinnen von Staaten, Industrie, Zivilgesellschaft – zusammenkommen und darüber reden. Aus ethischen Standards können sich dann im Laufe der Zeit rechtliche Verpflichtungen entwickeln. So funktioniert das in der völkerrechtlichen Bildung von Normen.

Ihre Idealvorstellung wäre also, dass alle Menschen die Quantentechnologie nutzen können?

Genau. Ich bin ein großer Fan der fairen Verteilung von Ressourcen, Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Manche Ressourcen sind endlich und gegen deren Erschöpfung kämpfen wir ja an, etwa durch Maßnahmen im Bereich des Klimawandels. Andere Ressourcen haben große Potenziale im Bereich der individuellen und gesellschaftlichen Wertschöpfung und da müssen wir jetzt schon fair verteilen. Wenn die Chancen realisiert sind und eine Gruppe die Vorteile bereits hat, wird es wahnsinnig schwer, das wieder rückgängig zu machen.

Im Ethics Lab sind Expertinnen und Experten unterschiedlichster Fachdisziplinen beteiligt, etwa Theologinnen und eine Genderforscherin. Welche Aspekte wollen Sie abdecken? 

Am besten alle. Wir wollen den Blick weiten und die Chancen und Risiken der Quantenforschung interdisziplinär betrachten. Das ist in Innsbruck so toll, weil wir Tür an Tür mit den Expertinnen der Quantenphysik sitzen. 

Was überlegt sich die Theologin in Bezug auf Quantenforschung?

In der Theologie geht es zum Beispiel um Quantenzustände. Dass es etwas gibt, das weder das eine noch das andere ist, wo erst der Beobachtungsmoment das Beobachtete ändert. Man sagt: Der Quantenzustand kollabiert. Die Theologie hilft uns, über diesen Zustand nachzudenken. Sie beschäftigt sich seit Jahrhunderten mit dem „Dazwischen“, dem Leben und Nicht-mehr-Leben. Auch der österreichische Nobelpreisträger Anton Zeilinger, ein ganz großer Quantenforscher, hat der Furche mal gesagt, dass er sich besonders für das „Metaphysische“ interessiert, also für etwas, das man nicht in den Naturwissenschaften sehen und messen kann.

Ein smartes Web aus Quanten

An der Uni Innsbruck wird im Rahmen eines Exzellenzclusters fiebernd an neuen Quantenerkenntnissen geforscht. Vor wenigen Wochen ist den Teams um die Physiker Tracy Northup und Ben Lanyon ein großer Schritt in Richtung Quanteninternet gelungen: Erstmals konnten zwei Ionen über eine Distanz von 230 Metern Luftlinie miteinander verschränkt werden. Die Knoten des Netzwerks waren in Laboren in unterschiedlichen Gebäuden am Campus Technik untergebracht. Das Experiment zeigt, dass Ionen eine vielversprechende Plattform für Quantennetzwerke darstellen, die sich in Zukunft über Städte und ganze Kontinente erstrecken könnten. Dass jetzt schon über Ethik- und Menschenrechtsfragen rund um die Technologie diskutiert wird, findet Experimentalphysikerin Northup gut. Richtlinien für die Quantenforschung an den Universitäten könnten zum Beispiel über Fördergeber wie die Europäische Kommission eingefordert werden. „Solche Instrumente sind für die Grundlagenforschung ganz wichtig. Mit der Industrie verhält sich das vielleicht ein bisschen anders. Aber wir müssen zusammenarbeiten. Das macht es erst spannend.“ Dass Quantennetzwerke einmal Teil unseres täglichen Lebens sein werden, kann sich die Physikerin nur schwer vorstellen. Die wenigsten Menschen würden in Zukunft direkt auf das Quanteninternet zugreifen können. Es habe aber das Potenzial, unser Leben nachhaltig zu verändern. Quantennetzwerke könnten etwa eine schnellere Übertragung und sichere Kommunikation von sensiblen Gesundheits- oder Finanzdaten ermöglichen. Eine weitere Anwendung liegt im Bereich Sensornetzwerke, die zwischen Teleskopen über tausend Kilometer kommunizieren oder Hirnströme viel akkurater messen können, als das bisher möglich war. Wissenschaftlerin Northup ergänzt: „Wir sprechen nicht unbedingt von neuen Fragen, sondern von anderen Anwendungen.“ Quantennetzwerke könnten nicht zuletzt einen Zugang zu Quantencomputern schaffen. „Auch wenn der Quantencomputer weit weg ist, kann er Probleme aus der Ferne lösen.“

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